Damals war Heimat. Marie-Theres Arnbom

Damals war Heimat - Marie-Theres Arnbom


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und besonders bewusst: Denn eine Antwort kann es nicht geben. Und doch findet sie Rudolf Bienenfeld zu Recht in den Folgen des Ersten Weltkrieges – ein Faktum, das bis heute viel zu wenig beachtet wird: Die Demütigung der Deutschen – und auch des verbliebenen Österreichs – brachte ein »Jetzt erst recht«-Selbstbewusstsein hervor – und isolierte sie damit von den anderen europäischen Nationen. Statt eines gemeinsamen Neuanfangs gab es ausschließlich Ressentiments. Der Status des Opfers führte zu einer Isolation, die keinen Platz für Gemeinsames ließ. Alle waren gegen Deutschland, daher waren die Deutschen gegen alle. Und vor allem gegen diejenigen, denen sie sich intellektuell unterlegen fühlten: den Künstlern, den Schriftstellern, deren Geist geschärft worden war durch eine Erziehung, in der Sprache eine große Rolle spielte. Moderne Lebensformen standen biederer Häuslichkeit gegenüber, geschäftliche Internationalität nationaler Engstirnigkeit. Und angeblich »jüdische« Emanzipation gegen braves deutsches Hausfrauentum.

      Dieses Buch handelt von unkonventionellen Menschen, die einen Zeitraum von 200 Jahren prägten. Von Rabbinern, die sich der Moderne zuwandten. Von Schriftstellern, die die Gegenwart abbildeten und analysierten. Von Abenteurern, die die alte und die neue Welt miteinander verknüpften. Welche Faktoren hatten dies überhaupt ermöglicht?

      Das führt gleich zum nächsten Thema: dem enormen Stellenwert der Bildung. Die Rabbiner Jakob und Moriz Hirschfeld hatten sich in besonderem Maße dafür eingesetzt – denn nur höhere Bildung war ein Garant für Assimilation. Zahlreiche Mitglieder der porträtierten Familien setzten sich mit glühendem Eifer für Bildung ein. Ein Forum bot die Wiener Volkshochschule – eine bewundernswerte Initiative, vielen Bevölkerungsschichten den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dies war ein wesentlicher Aspekt, der die hier porträtierten Familien verband. Ob sie über Musik sprachen, wie Robert Hirschfeld und Elsa Bienenfeld, ob sie Konzertreihen konzipierten, wie Irma Hasterlik, Mikroskopier-Kurse abhielten, wie Robert Koritschoner, über Cholera-Prophylaxe sprachen, wie Moriz Koritschoner, über die Biologie des werdenden Menschen, wie Bianca Bienenfeld, oder über das Mittelmeer als Schicksalsweg unserer Kultur referierten: Sie alle stellten ihr Schaffen auch in den Dienst der Bildung anderer Menschen, aus dem Bewusstsein heraus, dass nur Wissen mündige Menschen hervorbringt.

      Dass sich dann die Welt in eine so andere Richtung entwickelte, sahen sie mit Besorgnis, Angst und Fassungslosigkeit. Rudolf Bienenfeld schuf mit seinem Buch Deutsche und Juden aus dem Jahr 1936 eine der brillantesten Analysen. Er verschloss die Augen nicht vor der Realität – und konnte doch nicht ahnen, welche Dimensionen diese Entwicklung annehmen sollte.

      Dies führt zu einer weiteren Verbindung: All die vorgestellten Familien vertrauten auf den Rechtsstaat, glaubten an Zivilisation und Gleichheit der Menschen. Fast alle Jungen konnten unter schwierigsten Umständen entkommen, die ganz Alten jedoch blieben übrig, wurden aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, von einer Wohnung in die nächste mit anderen Menschen zusammengepfercht, jeglicher Privatsphäre beraubt und schließlich im hohen Alter nach Theresienstadt transportiert, um dort unter entsetzlichen Bedingungen weitere Monate zu vegetieren. Andere wurden nach Auschwitz oder Maly Trostinec deportiert und dort sofort ermordet. Auch Annemarie Selinkos vierjährige Nichte fiel dem Morden zum Opfer. Für sie hat es kein Leben gegeben.

      Alle diejenigen, die im hohen Alter einen so würdelosen und grausamen Tod erleiden mussten, hatten ein erfülltes Leben gehabt, Großartiges geleistet, Neues geschaffen, sich für das Gemeinwohl eingesetzt. Im Mittelpunkt dieses Buches steht der Wunsch, ihre vielfältigen Geschichten, ihre spannenden Persönlichkeiten dem Vergessen zu entreißen.

      Viele Menschen haben dieses Buch begleitet. Ohne die Begegnungen mit ihnen wäre vieles nicht möglich gewesen, und sie alle bereichern mein Leben. Ihnen allen sei mein innigster Dank gesagt.

      Meiner geduldigen Familie.

      Tom Anninger, Heinrich Berg, Godfrey Dawkins, Hanna Ecker, Wolf-Erich Eckstein, Renate Eissing-Suchy, Ernst Gečmen, Giulia Hine-Koritschoner, Harvey Hine, Clara Huber, Nick Kary, Barbara Kühnelt-Leddihn, Stefanie Leimser, Georg Male, Juliane Schenk, Benigna Schönhagen, Georg Schrom, Ruth Steiner, Katharina Stourzh, Astrid Wallner, dem Team von Anno und natürlich Brigitte Sinhuber-Harenberg, Carmen Sippl und den Mitarbeitern des Amalthea Verlages.

       I

       RABBINER UND SCHRIFTSTELLER

       Die Familie Hirschfeld

      Zu kaum einer Familie habe ich eine so vielschichtige Beziehung wie zur Familie Hirschfeld. Doch wo beginnen? Vielleicht bei der Musik, die mich mein Leben lang begleitet. Victor Léon, Librettist der Lustigen Witwe, ist eine faszinierende und wahrlich nicht unumstrittene Persönlichkeit – gerade eine solche Polarität übt immer einen besonderen Reiz aus, denn es steckt etwas Außergewöhnliches dahinter. Dem nachzuforschen, erwies sich als wahre Detektivarbeit, die die historische Recherche spannend macht. Wer waren die Eltern dieses herausragenden Kindes, fragt man sich. Und stößt auf eine Dynastie von Rabbinern und Ärzten, denen die Bildung über alles ging. Wortgewaltige und streitbare Persönlichkeiten, die ihren Kindern eines auf den Lebensweg mitgaben: Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Eigenschaften, die diese Familie bis heute prägen.

      Victor Léon hatte einen nebenehelichen Sohn, natürlich Victor genannt. Dessen Mutter war die erfolgreiche Soubrette Margit Suchy – und der Zufall (wenn es einer war) ließ mich Victor Suchys Großneffen heiraten. Dieser hatte das zweifelhafte Glück, in derselben Woche Geburtstag zu haben wie sein mehr als sechzig Jahre älterer Großonkel, aus praktischen Gründen wurde dieser immer gemeinsam begangen. Die Beziehung zu Victors Nachkommen ist dennoch innig – und Victor Léons Ururenkelin ist unser Patenkind.

      Im Zuge meiner Recherchen für eine Operetten-Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum lernte ich auch die ehelichen Nachkommen kennen und tauchte in die Familiengeschichte ein. Im Hause von Victor Léons Urenkel fand ich viele Schätze: ein Deckerl, bestickt mit einem Zitat aus der Lustigen Witwe, Fotos, Bücher und Libretti – und Erinnerungen, die lange Jahre verschüttet waren und nun wieder zum Vorschein kamen. Eine der wunderbarsten Freundschaften entstand daraus – ich habe das Gefühl, fast ein Teil dieser Familie zu sein.

      Und dann fand ich per Zufall einen weiteren Nachkommen: einen Reverend in Nairobi, der mir das Foto seines Ururgroßvaters Maximilian Hirschfeld, Zahnarzt in Karlsbad und Meran, per E-Mail zusandte. Plötzlich wurde auch dieser Teil der Familie lebendig – und ich begab mich auf weitere Spurensuche: zuerst nach Augsburg in die jüdische Gemeinde, wo Jakob Hirschfeld Rabbiner gewesen war. Dann nach Schoßberg in der heutigen Slowakei, dem Geburtsort des »Urvaters«. Eine beeindruckende und zugleich traurige Reise in die Vergangenheit: Die Synagoge, von der alles seinen Ausgang genommen hat, ist eine Ruine, in der Tauben statt Gläubigen ihr Zuhause gefunden haben.

      Ein Besuch in einer Wohnung in Pötzleinsdorf am Rande Wiens, wo ich selbst wohne, gab der Suche eine neue Facette: Dort lebten und arbeiteten die Geschwister Adele und Eugenie Hirschfeld, im Stockwerk darüber ihr Bruder Leo Feld. Sie empfingen Literaten wie Stefan Zweig und Felix Braun. Die heutigen Besitzer erlaubten mir einen Blick in die Wohnung, aber auch hinaus ins Grüne – ein Blick, der sich in den vergangenen hundert Jahren nur wenig verändert hat.

      Victor Léons Ursprünge

      »Im Alter von 82 Jahren starb völlig verarmt der Librettist Victor Leon, der für Strauss, Lehár und andere Komponisten Texte schrieb. Sein Vermögen und sein Grundbesitz waren nach dem deutschen Einmarsch in Österreich beschlagnahmt worden. Leon war der Sohn des Philosophen und Rabbiners Dr. Heinrich Hirschfeld.«

      Mit dieser beinahe lakonischen Pressemeldung informiert der Aufbau, die Zeitschrift der Emigranten in New York, seine Leser am 3. Mai 1940 über den Tod eines der bedeutendsten Librettisten der Operettenszene. Ein Leben, das enorme Erfolge, Ruhm und Ehre beinhaltet hatte, war am 23. Februar dieses Jahres zu Ende gegangen, erst zehn Wochen später gelangte die Nachricht an die Öffentlichkeit. Wie hätten die Nachrufe geklungen, wäre alles noch in Ordnung gewesen? »Die Wiener Operette verliert


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