Damals war Heimat. Marie-Theres Arnbom
der modernen Wiener Operette war Lehars ›Lustige Witwe‹, deren Buch Victor Leon und Leo Stein verfaßten. In diesem Buche hatte Stein sich auf jene moderne internationale Tonart eingestellt, deren Pathos und Eleganz zwar nicht ganz echt waren, aber sehr stark wirkten.« So ist es jedenfalls im Nachruf auf Léons Coautor Leo Stein am 30. Juli 1921 in der Neuen Freien Presse zu lesen. Victor Léon blieb diese Würdigung verwehrt.
Geboren wurde Victor Hirschfeld, wie er eigentlich hieß, am 4. Jänner 1858 im ungarischen Szenitz, nur eineinhalb Stunden von Wien entfernt und doch in einer völlig anderen Welt. Nichts erinnert heute mehr an die jüdische Gemeinde, bis auf den kreisrunden Friedhof, der zwischen Fußballstadion und Tragluft-Tennishalle ein Relikt einer untergegangenen Welt ist. Victors Vater Jakob war als Rabbiner in Szenitz tätig; als Victor fünf Jahre alt war, wurde der Vater nach Augsburg berufen. Dort beginnt Victor seine Schullaufbahn, um sie dann im niedersächsischen Seesen fortzusetzen. Warum gerade in Seesen, fragt man sich. Die Antwort verblüfft: In Seesen war 1802 die Jacobson-Schule gegründet worden, ein Institut im Sinne der Aufklärung und des Reformjudentums, interkonfessionell ausgerichtet und für jüdische und christliche Kinder gleichermaßen offen. Auf hebräische Grammatik und Schreiben wurde ebenso Wert gelegt wie auf naturwissenschaftliche Fächer und alte Sprachen sowie Französisch. Wie die Morgenandacht für die Schüler aller Konfessionen zur Zeit Victor Léons begann, beschreibt der damalige Direktor Josef Arnheim: »Dies beginnt mit den rituellen Gebeten für die jüdischen Schüler und schließt mit einem allgemeinen Choral, der von sämmtlichen Schülern ohne Ausnahme gesungen wird.«1 Dass ein Rabbiner seinen Sohn in eine solch modern ausgerichtete Schule schickt, spiegelt seine eigene Geisteshaltung und beweist, dass Jakob dem Reformjudentum sehr nahe steht.
Vergangenheit und Gegenwart: Der jüdische Friedhof in Szenitz und das Fußballstadion
Am 6. März 1878 erscheint Victor Léon, wie er sich mittlerweile nennt, erstmals als Theaterautor in der Öffentlichkeit mit dem Lustspiel Falsche Fährte, das am Wiener Sulkowski-Theater aufgeführt wird. Valentin Niklas, der Leiter dieses kleinen Theaters, fördert mit Kräften junge Talente – so auch den erst zwanzigjährigen Léon. Im folgenden Jahr wird das Stück unter dem Namen Postillon d’amour publiziert – ein zugegebenermaßen sehr seichtes Stück, gewidmet dem »verehrten Bühnenschriftsteller f. Zell«.
Die Jacobson-Schule in Seesen
Die Hausfrau: »Ein neuer Pfad der Journalistik«
Bereits 1877 ist Léon journalistisch tätig und redigiert Die Hausfrau. Blätter für Haus und Wirtschaft samt der Beilage Der Damensalon. Diese Zeitschrift, mag der Titel heute auch sehr altmodisch klingen, war eine Novität. »Ein solches Organ ist ein Bedürfnis der Zeit; und diese Lücke nach besten Kräften auszufüllen, das ist es – was wir wollen.«
Eigentümer der Zeitschrift Die Hausfrau ist Sigmund Popper, der auf eine recht bunte berufliche Laufbahn verweisen konnte: So taucht er als Wollhändler im ungarischen Holitsch auf, um dann die Branche zu wechseln und als Redakteur und Herausgeber des Bade- und Reise-Journals in Wien und ab 1877 Herausgeber und Verleger der brandneuen Zeitschrift Die Hausfrau mit der Beilage Der Damensalon aufzuscheinen. Dieses neue Blatt gibt er gemeinsam mit seinem Sohn Julius heraus, redigiert wird es von Victor Léon. Wie kommen diese Herren nun zueinander? Ganz einfach: Sigmund Popper ist mit Amalie Hirschfeld verheiratet, der Schwester von Victor Léons Vater Jakob, der ebenfalls als Autor dieser Zeitschrift beschäftigt ist: Aus seiner Feder stammen unter anderem »Rhapsodien über Erziehung«. Somit ist die ganze Familie vereint, denn ein weiterer Bruder Amalies, der Arzt Dr. Maximilian Hirschfeld, gibt als ärztlicher Ratgeber unermüdlich Tipps, so in seinen »Betrachtungen über den Kindergarten« in mehreren Fortsetzungen. Das Geschick der neuen Zeitschrift liegt also in den Händen von zwei Geschwistern, einem Schwager und zwei Cousins.
Eine journalistische Pionierleistung
Im ersten Leitartikel am 8. September 1877 erklären die Herausgeber, was sie mit dieser für die damalige Zeit eher ungewöhnlichen Zeitschrift wollen: »Wir wollen mit diesen Blättern ein Organ gründen für die Interessen der Hausfrau; zunächst und vorwiegend in Bezug auf Hauswirthschaft. Auf dem Gebiete der Haushaltung, in all den tausendfachen Einzelheiten, welche zusammen die Ökonomie des Familienlebens bilden, soll die ›Hausfrau‹ der Hausfrau mit Rath und Fingerzeig an die Hand gehen. Sie soll zeigen, wie man all die in der Haushaltung erforderlichen Gegenstände, seien es Consumartikel, seien es Einrichtungsgegenstände, seien es Mittel des Bedürfnisses, seien es die des Luxus – die ›Hausfrau‹ soll zeigen, wie man all diese Güter der häuslichen Ökonomie in bester Qualität und doch zu den billigsten Preisen sich anschaffen kann.«
Und weiter wird auf die Novität hingewiesen: »Wir betreten – wir wissen es – hiemit einen neuen, noch ungeahnten Pfad der Journalistik. Aber eben hierin liegt die Berechtigung, ja das Bedürfnis dieses Unternehmens, indem wir für eine Sphäre des menschlichen Lebens, die bisher über kein öffentliches Organ verfügte, und dessen sie doch so dringend bedarf, ein solches ins Leben rufen. Oder ist es nicht eigenthümlich, daß in einer Zeit, wo die Journalistik sich über alle Gebiete des Lebens ausdehnt, so alle Gebilde und Vereinigungen der menschlichen Gesellschaft, von Staat und Kirche bis hinab zu Sport- und Spielvereinen, in der Regel eine Zeitung zur Pflege und Vertretung ihrer Interessen haben – doch EIN Institut jedes öffentlichen Organes entbehrt! Ein Institut – das wichtigste unter allen, die Grundlage, auf der die ganze civilisierte Gesellschaft sich aufbaut – die Familie!«
Doch nicht nur praktischen Belangen will die neue Zeitschrift dienen, im Damensalon »werden die mannigfachsten schöngeistigen Gaben geboten werden, spannende und lebensvolle Erzählungen, wie überhaupt Dichtungen in Prosa, Poesie, Berichte über Literatur und Kunst, namentlich über Theater und Musik, Mittheilungen über Mode und was sonst die elegante Welt interessiert.« Hauptaufgabe soll sein, »literarische Producte von Damen zur Veröffentlichung zu bringen, sowohl von anerkannten hervorragenden Schriftstellerinnen, die uns auch bereits ihre schätzenswerthe Mitarbeiterschaft zugesagt, als auch Geisteserzeugnisse von aufstrebenden Talenten, wenn sie der Veröffentlichung würdig, so daß der Damensalon zur Förderung der Literatur in und aus den weiblichen Kreisen dienen wird.«
Drei Jahre zuvor hat Lina Morgenstern in Berlin die Deutsche Hausfrauenzeitschrift gegründet und somit eine Pioniertat geleistet. Sigmund Popper überträgt diese Idee nun auf Österreich und kann Lina Morgenstern auch als Autorin gewinnen. Sie engagiert sich besonders für die Einrichtung von Kindergärten und die höhere Bildung für Frauen. Sätze wie dieser aus dem Jahre 1877 haben nichts an Brisanz verloren: »In der Schule, wo Massen von Schülern einem Lehrer gegenüberstehen, kann nur bis zu einem gewissen Grade individuelles Eingehen stattfinden.«2
Victor Léon nützt das Forum dieser Zeitung natürlich auch für sich selbst: Er veröffentlicht Fortsetzungsnovellen wie Eine Liaison oder Gedichte wie Madonna und ist in jeder Ausgabe auch mit Theater-Causerien oder Leitartikeln präsent. Anlässlich der Hochzeit seines Cousins Julius Popper mit Marie Kohn im Jahre 1877 verfasst Léon am 24. November ein überschwängliches Jubelgedicht mit dem Titel Hochzeitscarmen:
Und wir, »Die Hausfrau«, Deine erste Favorite,
Sind eifersüchtig nun, fürwahr!
Wir kennen das! Und es scheint rar,
Bei der vielweiberischen Sitte,
Daß Du die gleiche Lieb’ uns noch wirst schenken,
Da Du Maria