Damals war Heimat. Marie-Theres Arnbom
entsprechend, seiner Zeit weit voraus und bringt Anträge ein, die keinerlei Unterstützung finden.
Jakob Hirschfeld hat es in Augsburg nicht leicht – was wohl auch an seinem offenbar nicht ganz einfachen Charakter liegt, wie 1917 Rabbiner Richard Grünfeld höflich, aber deutlich formuliert, denn es gelingt Hirschfeld nicht immer, »den notwendigen Kontakt mit Gemeinde und Gemeindeverwaltung zu erhalten. Seine religiöse Richtung war gemäßigt liberal mit einem stark opportunistischen Einschlag.«11 Wobei dieser Opportunismus wohl noch mit starkem Geltungsdrang verbunden ist. Es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen konservativen und liberalen Gemeindemitgliedern, und Jakob Hirschfeld wird von beiden Gruppierungen als zu der jeweils anderen gehörig betrachtet. Er beendet seine Zeit in Augsburg 1871, knapp bevor dort die zweite Synode zusammenkommt, in der die konservativen Vertreter die Oberhand gewinnen und den Liberalen Jakob Hirschfeld in landesweiten Zeitungsaufrufen bannen.12 Intention der Synode ist, »das Judenthum und dessen Institutionen mit dem Geiste der Zeit und den veränderten Lebensverhältnissen zu versöhnen und eine Vereinbarung zwischen den aus der Vergangenheit übernommenen und aus der Gegenwart sich mit Macht herandrängenden Ideen als möglich und praktikabel darzustellen«. Eine Vermittlerfunktion »zwischen zwei einander grollenden Elementen« sei das Hauptanliegen, wie Die Neuzeit am 30. Juni 1871 auf Seite 1 verkündet. Dies ist Jakob Hirschfelds letzter Tag als Rabbiner in Augsburg.
Über seinen Rückzug kann nur spekuliert werden, da jedoch die Synode »zunächst ein Organ des konservativen Strebens« war, eckt er mit seinen großen Reformanliegen wohl wieder und wieder auch in seiner eigenen Gemeinde an. Trotzdem nimmt er an der Synode teil und setzt sich unerschrocken für sein Anliegen ein: Ein Antrag Jakob Hirschfelds bezieht sich wiederum auf das höchst umstrittene Orgelspiel in der Synagoge und beginnt mit den Worten: »Das Musicieren am Sabbath ist, an welchem Orte und zu welchem Zwecke auch immer, biblisch nicht verboten.«13 Mit dieser deutlichen Ansage, die mit verschiedenen Zitaten belegt wird, eröffnet Hirschfeld eine Diskussion, die sehr heftig geführt wird. Denn es geht nicht nur um die Einführung einer Orgel, die mit dem Christentum verbunden wird, in der Synagoge, sondern auch darum, dass das Instrument im Falle einer Beschädigung am Sabbat nicht repariert werden dürfe, und vor allem darum, dass ein Jude diese am Sabbat nicht spielen dürfe – oder vielleicht doch? Hirschfeld argumentiert weiter, dass das Verbot der Sabbat-Arbeit für die Förderung der religiösen Übung aufgehoben sei – und Musik fördere die religiöse Übung. Die Jugend solle wieder für den Gottesdienst gewonnen werden, denn diese »fühlt sich von der bisherigen Gestaltung und Handhabung des Gottesdienstes wenig angezogen und erbaut. Hoffen wir, durch die Orgel und einen verständlichen, der Zeitrichtung entsprechenden Gottesdienst die Jugend fürs Gotteshaus zu gewinnen.« Es sind dies genau die Jahre, in denen Jacobs Sohn Victor die Reformschule in Seesen besucht – deren Jakobstempel, erbaut 1810, hatte die erste Synagogenorgel im deutschsprachigen Raum.
Die orthodoxe Zeitschrift Der Israelit verurteilt die Synode in jeder Nummer: Nur wenige Rabbiner nehmen teil, viele speisen im örtlichen – nicht koscheren – Wirtshaus und hinterfragen in ihren Anträgen die Grundfesten des Judentums. Die Synode gipfelt in einer Erklärung vom 26. Juli 1871, die jedoch der Großteil der teilnehmenden Rabbiner unterzeichnet. Was ist der Inhalt? Eine deutliche Distanzierung von all jenen Rabbinern, die die jüdischen Ehegesetze infrage stellen. Und es wundert wenig, dass sich Jakob Hirschfelds Name nicht auf dieser Liste findet. Im Gegenteil. Selbstverständlich wird auch eine Liste der »Gegner« veröffentlicht – mit weitreichenden Folgen. Die gesetzestreuen Gemeinden sollen dafür Sorge tragen, dass diese »Leugner und Verletzer der göttlichen Lehre ihres Amtes enthoben werden, und wenn dieses nicht zu ermöglichen ist, dafür Sorge zu tragen, daß die gesetzestreuen Israeliten sich von diesen Pseudorabbinern vollständig lossagen. Die Herren heißen: …« Und klarerweise findet sich auf der nun folgenden Liste auch der Name Hirschfeld, Exrabbiner von Augsburg. Ob dies Anlass für Jakob ist, seine Tätigkeit als Rabbiner zu beenden, bleibt unklar. Jedenfalls ist er ab 1871 in seinem Beruf nicht mehr tätig.
Über München gelangt Familie Hirschfeld 1876 nach Wien. Hier wechselt Jakob Hirschfeld wohl nicht ganz freiwillig das Metier, schreibt für Die Hausfrau und kann gleich in der ersten Ausgabe über Rhapsodien der Erziehung in blumigsten Worten feststellen: »Erziehung ist nicht Unterricht. Erziehung ist wie der Einfluß des Licht-Fluidums, dieses wunderbaren Agens, das unvermerkt aber stetig und intensiv wirkt, und Leben wecket und gestaltet.«14 So fremd ist ihm das Metier des Journalismus jedoch nicht, denn mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte er bereits ein äußerst positives Zeugnis von einem Redakteur der Wiener Zeitung ausgestellt bekommen. Jakob war seit 1850 »Mitarbeiter für den wissenschaftlichen und literarischen Theil«. Nicht nur seine publizistischen Beiträge wurden gelobt, sondern auch »sein ehrenwerther Charakter und seine gediegene wissenschaftliche Bildung«.15 Am 22. September 1877 sind Vater und Sohn auf derselben Seite in der Hausfrau vereint: Jakob berichtet über die Schriftstellerin Betty Paoli, Victor Léon gibt eine weitere Kostprobe seines dramatischen Talents mit der Novelle Eine Liaison.
Jakobs Geist und seine sprachlichen Fähigkeiten gehen auf seine Kinder über. Man kann sich vorstellen, wie in einer Familie, in der das Wort solchen Stellenwert hat, gewitzelt und karikiert wird. Die beste Grundlage für Theatertexte und Operettenlibretti.
Victor Léon, der Operettenkönig
Victor Léons Weg geht stetig in eine Richtung: zum Theater. Als Dramaturg und Oberspielleiter sammelt er Erfahrungen, doch das Schreiben ist sein eigentliches Metier: Bereits 1898 fährt er den ersten Erfolg mit dem Text zu Richard Heubergers bis heute populärer Operette Opernball ein. Und nun geht es Schlag auf Schlag: 1902 mit Franz Lehárs Der Rastelbinder und 1905 wiederum gemeinsam mit Lehár der wohl größte Erfolg: Die lustige Witwe. Übrigens hatte Victor Léons Tochter Lizzy Lehár entdeckt: Beim Eislaufen war ihr der fesche Kapellmeister ins Auge gestochen und sie hatte ihren Vater auf ihn aufmerksam gemacht. Der Rest ist Geschichte.
Victor Léon
Im Schlüsselroman Operettenkönige von Franz von Hohenegg, vermutlich ein Pseudonym für einen Intimfeind Léons, wird dieser als äußerst unsympathischer Intrigant dargestellt – der Autor focht wohl eine private Fehde mit Léon aus und rächte sich auf diesem Wege. Aber: Ein Körnchen Wahrheit wird wohl doch enthalten sein, jedenfalls was die persönlichen Lebensumstände betrifft, heißt es doch in dem Roman über ihn: »›Bonné [gemeint ist Léon] ist auch verheiratet, aber deshalb sind wir doch moderne Menschen und wissen unsere kleinen Liaisons mit Anstand abzuwickeln.‹ – ›Sie haben vollkommen recht, Direktorchen,‹ schmunzelte Bonné, an seiner Zigarre kauend, ›die Liebe, besonders die verbotene Liebe, ist dem Künstler so unentbehrlich wie der Blume der Tau.‹« Nach diesem Motto lebt und handelt wohl die ganze Operettenszene – Gspusis16 zwischen Komponisten, Librettisten und Direktoren und großen Stars, kleinen Balletteusen und ehrgeizigen Jungdarstellerinnen gehören zum Alltag. Und auch Victor Léon hat neben seiner Tochter Lizzy, deren Mutter Ottilie Popper er erst nach der Geburt heiratete, einen Sohn: mit der bekannten Soubrette Margit Suchy, die natürlich viel jünger ist als er. Weitere Kinder sind unbekannt, aber nicht ausgeschlossen.
»Aus einem Kleinliteraturtreibenden ist er schnell ein Großindustrieller der Bühne geworden.«17 Victor Léon ist eitel. Beim Lesen von Artikeln, die er für diverse Zeitungen verfasst, sticht diese Charaktereigenschaft ins Auge. Aber auch in Rezensionen über Uraufführungen seiner Werke wird klar, dass er den Dank und die Ovationen immer gerne entgegennimmt. »Für die Librettisten nahm Herr Victor Léon das Wort«, heißt es anlässlich der 300. Aufführung der Lustigen Witwe am 14. Jänner 1907 in der Wiener Sonn- und Montagszeitung, »der mit bemerkenswerter Bescheidenheit seinem freudigen Staunen Ausdruck verlieh, daß sich bei keinem der Darsteller infolge der Daueraufführungen Zeichen der Paralyse einstellten«. Diese »bemerkenswerte Bescheidenheit« ist offenbar erwähnenswert.
Heute