Überleben nicht erwünscht. Karin Bulland
aus Stein
Als ich schon erwachsen war, erzählte mir meine Mutter einmal von ihren Eltern und ihrer Kindheit, nur ein Mal. Geboren wurde meine Mutter 1926. Als sie sechs Jahre alt war, musste sie auf Kirschkernen knien und wurde von ihrem Vater mit der Peitsche geschlagen. Als meine Mutter vierzehn war, wurde sie in Stellung geschickt. Das heißt, sie musste im Haushalt eines Arztes arbeiten. Meine Mutter erzählte: Sie musste dort so schwer arbeiten, dass sie bewusstlos wurde. Meine Oma aber meinte, es sei an der Zeit, dass diese Inge endlich mal richtig erzogen würde. Damals war es durchaus üblich, dass die Mädchen als Haushaltshilfen in wohlhabenden Familien tätig waren. Aber die Art und Weise, wie meine Oma über meine Mutter redete und die abfällige Art meiner Mutter, über die Oma zu reden, waren bezeichnend. Es gab weder Verständnis füreinander noch Liebe.
Genauso verständnislos und lieblos war es von den Eltern meines Vaters, ihrem Sohn den Zutritt zu seinem Elternhaus zu verwehren, weil er ein Mädchen liebte, dessen Eltern eine andere politische Einstellung hatten. Meine Eltern erlebten kalte Herzen aus Stein.
Verständnis und Hilfe konnten meine Eltern bei ihren Familien also nicht erwarten, als mein Vater 1953 verhaftet wurde. Mit dieser großen Not waren sie völlig allein. Meine Mutter musste zusehen, wie sie die beiden kleinen Jungen versorgte. Die materielle Not war groß und die seelische Not vielleicht noch größer. Wer konnte meine Mutter trösten, wer machte ihr Mut, nicht aufzugeben? Irgendwo bei irgendwem hat meine Mutter Trost und Zuwendung gesucht – und Sex gefunden – und sie wurde schwanger. Das Elend nahm seinen Lauf. Die Abtreibung misslang und ich wurde am 25. Juni 1954 geboren. Da es bei der Geburt medizinische Probleme gab, wurde ich sofort in die Universitätsklinik gebracht, wo ein totaler Blutaustausch erfolgt sein soll. Den ersten Überlebenskampf hatte ich gewonnen. Es sollte nicht der letzte gewesen sein.
Pfarrer Partetzke
Meine Mutter erzählte mir, dass 1954 die Kirche zu den Leuten nach Hause gekommen sei, um die Kirchensteuer einzutreiben. Meine Mutter hatte nicht genug Geld, um drei Kinder zu ernähren, und trat darum aus der Kirche aus. Des Geldes wegen? Weshalb sollte ich das anzweifeln? Vom Glauben wurde in meiner Familie nie gesprochen. Was nicht heißt, dass meine Mutter nicht an Gott glaubte. Ich habe allerdings nie auch nur ein Anzeichen gesehen, dass meine Mutter an Jesus Christus geglaubt hätte.
Am 3. Oktober 1954 brachte meine Mutter mich zum Pfarrer in die Kirche, legte mich auf seinen Amtstisch und sagte: „Machen Sie mit der, was Sie wollen. Die Hauptsache, sie wird mal anders als mein Vater.“ Wie schlimm musste es für meine Mutter in ihrer Familie gewesen sein, dass sie so etwas sagte!
Der Pfarrer Partetzke erzählte mir vierzig Jahre später, er sei in diesem Augenblick überzeugt gewesen, dass meine Mutter mich gern bei ihm abgegeben hätte, was er natürlich nicht dulden konnte. Aber die Not meiner Mutter konnte er gut verstehen und dass sie Hilfe brauchte, wusste er auch. Er hob mich empor zum Kreuz und betete etwa so: „Herr, du hast dieses Kind wunderbar gemacht, du hast gewollt, dass es lebt, und du hast einen Plan für dieses Kindlein. Dieses Kind gehört dir und dein Plan für diese kleine Karin soll in Erfüllung gehen. Halte du, allmächtiger Gott, deine schützende Hand über diesem Kind. Segne und behüte es und lass es deine Wege im Leben gehen.“ Dann segnete er mich mit dem Vers aus Johannesevangelium 13,7: „Was ich heute tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber später begreifen.“
So wurde ich Gott geweiht.
Meine Mutter brachte mir dagegen von klein auf bei: „Man hat nur vergessen, dich kleinerweise totzuschlagen; du bist ja sowieso zu nichts nütze.“ So wurde ich verflucht – von meiner Mutter.
Als Pfarrer Partetzke mir viel später diese Geschichte erzählte, sagte er mir auch, dass meine Mutter in einer schweren Notsituation und sehr verzweifelt gewesen sei. Von diesem Tage an hatte er für unsere Familie und speziell für mich gebetet. Ich wusste davon nichts. Aufgrund meiner Erziehung hätte ich das wahrscheinlich auch lächerlich gefunden. In unserer Familie wurde wie gesagt nicht über den christlichen Glauben gesprochen.
Als Pfarrer Partetzke 1985 in Pension ging, zog er aus dem Pfarrhaus aus und wurde der Nachbar meiner eigenen Familie, denn ich hatte 1978 bereits geheiratet und unsere Tochter war schon sieben Jahre alt. So wurden wir viele Jahre später im Plattenbau Nachbarn. Dadurch lernten wir uns persönlich kennen. Auch wenn er ein Geistlicher war und wir eine Funktionärsfamilie, hat uns das nicht an einem freundlichen und sogar persönlichen Umgang miteinander gehindert.
Zu seinem 80. Geburtstag durfte er noch erleben, wie seine Gebete erhört wurden. An diesem Tag wünschte ich ihm zum ersten Mal nicht mehr „alles Gute“, sondern „Gottes Segen“. Da hielt er meine Hände und weinte: „Das ist der schönste Tag in meinem Leben. Dass ich das erleben darf, dass Gott diese Gebete erhört hat, ist das größte Geschenk für mich. Bitte sagen Sie jedem: ‚Wer betet, siegt‘!“
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Einige Zeit später erzählte mein Vater mir die gleiche Geschichte, wie Pfarrer Partetzke sie mir erzählt hatte.
Mein Vater sagte, er sei gegen die Taufe gewesen, denn wenn Eltern ihr Kind taufen ließen, so meinte er, dann müssten sie ihr Kind auch im Glauben erziehen. Er glaubte nicht an Gott und so entschloss er sich, mich in keiner Weise zu erziehen. Das hatte zur Folge, dass mein Vater mich nie bestrafte, aber auch nie beschützte. Er kümmerte sich nie um schulische Dinge. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals eine Schularbeit unterschrieben hätte oder dass er zu einer Elternversammlung in der Schule war. Da ich als Kind von den Hintergründen seiner Entscheidung nichts wusste, war es für mich oft frustrierend, dass mein Vater nie für mich und meine Belange ansprechbar war. Es gab mir immer das Gefühl, nicht gewollt und nicht geliebt zu sein.
Trotz allem kann ich mich an eine sehr schöne Situation mit meinem Vater erinnern. Ich wünschte mir so sehr einen Bildband mit vielen schönen Fotos über das Kunstturnen. Denn ich liebte diesen Sport sehr und trainierte viel. Mancher behauptete, ich hätte in der Turnhalle Laufen gelernt und über dem Babykörbchen eine Reckstange gehabt. Ich war einfach talentiert und es fiel mir leicht. So brachte ich es zu recht guten Leistungen. Die Fotos in dem Buch zogen mich fast magisch an. Aber dieses Buch kostete 16,80 DDR-Mark. Ich hatte kein Geld, um es mir zu kaufen. In der Sportgemeinschaft trainierte ich zweimal wöchentlich kleine Schulkinder. Dafür bekam ich im Monat fünf Mark. Zehn Mark hatte ich mir gespart und mein Vater gab mir heimlich den Rest. Meine Mutter durfte davon nie und nimmer erfahren, „weil ich’s doch nicht wert war“. Mein Vater hätte richtig Stress mit ihr bekommen.
Von meiner Mutter bekam ich nie Taschengeld. Meine Brüder ja, aber ich nie. Ich sollte es mir selbst verdienen. Diese Art „Gerechtigkeit“ war ich da längst gewöhnt, hatte ich doch beizeiten begriffen, dass man mich nur vergessen hatte, „kleinerweise totzuschlagen“, weil ich ja zu nichts nütze sei. Einmal versuchte ich, meine Gleichberechtigung zu erkämpfen, was in einer Tracht Prügel endete, von der ich hinterher blaue Flecke am Körper hatte. Aber meine arme Mutter hatte es als Kind auch nicht anders gelernt. Sie bekam ja selbst statt Liebe und Zuwendung nur Peitschenhiebe.
Auch mein Vater machte es wie seine Eltern. „Bist du anderer Meinung, dann will ich mit dir nichts zu tun haben!“ Mein Vater wandte sich ab und kümmerte sich nicht um mich, so wie es seine Eltern mit ihm auch gemacht hatten.
Als Schüler der achten Klasse mussten wir Kinder alle in ein Konzentrationslager fahren und uns anschauen und anhören, was die Nationalsozialisten für schreckliche Gräuel verübt hatten. Heute will so mancher das unseren Jugendlichen „ersparen“, weil es zu grausam wäre.
Nein, so finde ich, man sollte das den Jugendlichen zeigen, damit jeder begreift, wie schrecklich der Nationalsozialismus war. Aus meiner heutigen Sicht müssen wir Deutschen nicht für alle Zeiten in Sack und Asche herumlaufen wegen dieser Vergangenheit. Aber wir haben eine Verantwortung für die Geschichte unseres Volkes. Wir können keinen toten Juden wieder lebendig machen. Was geschehen ist, ist geschehen, so schlimm das auch ist. Aber wir können die jüdischen Menschen unterstützen und ihnen helfen, wir können