Überleben nicht erwünscht. Karin Bulland
Damit standen uns alle beruflichen Türen offen, viel weiter, als meine Mutter ahnte. Sie hätte das niemals erfahren dürfen. Sonst hätte sie uns aus dem Haus gejagt. Wir hatten wirklich Angst, dass sie es jemals erfahren würde.
In den Kulturhäusern gab es während meiner Kinder- und Jugendzeit noch viele Unterhaltungsabende mit Tanz, wo unsere Eltern gern hingingen. Einen DJ kannten wir noch nicht, es spielte jeweils eine traditionelle Tanzkapelle. Getanzt wurden die klassischen Tänze. In meiner Teenagerzeit kam gerade der Rock ’n’ Roll in Mode, „was nur für junge Leute etwas war“. Aber da war ich gerade richtig.
Meine Eltern sangen damals, in den 1960er- und 1970er-Jahren, in einem Volkschor. Diese Chöre traten dann an solchen Tanzabenden auf.
Jeden Dienstag war Chorprobe. Wir Kinder freuten uns jede Woche darauf. Denn wenn unsere Eltern aus dem Haus waren, saßen wir zu dritt oben im Doppelstockbett und spielten Skat. Ich war erst acht Jahre alt, da musste ich das lernen, denn meine Brüder brauchten den „dritten Mann“. Ich glaube, ich habe meine Brüder ziemlich genervt und gereizt. Manchmal haben wir uns so gestritten, dass die Türen knallten. Für gewöhnlich ging das so lange, bis eine Tür aus der Angel sprang. Wir waren uns sofort wieder einig, weil die Tür an Ort und Stelle sein musste, bevor unsere Eltern zurückkamen.
Natürlich blieb meinen Eltern das auf die Dauer nicht verborgen, denn die anderen Hausbewohner beschwerten sich ständig und wir bekamen entsprechend Ärger.
Bald fanden meine Eltern es besser, wenn wir mit zu den Chorproben gingen. Auf diese Weise lernte ich schon früh viele schöne Volkslieder kennen und bekam Freude an der Volksmusik. Und wenn meine Eltern am Wochenende Chorauftritt hatten, durften wir Kinder dabei sein.
Nach dem Chorsingen wollte ich unbedingt auch tanzen. Meinem Vater war das wohl doch ein bisschen zu komisch, mit mir aufs Parkett zu gehen. So heuerte ich meinen Bruder an.
Mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich und wir übten viel, um einen ordentlichen Walzer aufs Parkett zu legen. Ich war erst im Grundschulalter, als ich bei solchen Kulturveranstaltungen auf der Bühne stand und Gedichte aufsagte. Ein Gedicht habe ich im fünften Schuljahr selbst geschrieben:
Wie schön bist du, du Republik.
Wir halten mit dir gleichen Schritt.
Die Kriege werden wir verjagen.
Und alle werden des Friedens Fahne tragen.
Dieses kleine Gedicht hat nichts Besonderes, und doch ist es etwas Besonderes, wie ein Kind schon in diesem Alter seine Vorstellungen aufschreibt.
Damals war ich nur stolz darauf, weil ich immer wieder dafür gelobt wurde. Als Kind begriff ich nicht, weshalb. Ich wurde gelobt und freute mich. Das, was für mich heute besonders ist, ist der Inhalt, der Glaubensinhalt. Ich würde es heute „Kommunistische Religion“ nennen. In der Bibel stehen Psalmen, Loblieder, die Gott ehren. Was war dieses kleine Gedicht anders als ein Loblied auf die selbst ernannten Götter Marx, Engels und Lenin. Dieses Gedicht ist in meinen Augen nichts anderes als das Ergebnis von Gehirnwäsche. Schon als Kinder wurden wir gelehrt, dass der böse Westen die Kapitalisten und Kriegstreiber beherbergte. Wollte man also die Kriege verjagen, musste man die Kriegstreiber bekämpfen und besiegen. Das heißt nichts weniger, als dass man den Kapitalismus besiegen musste, auch mit militärischen Mitteln. So wusste ich als Kind, dass der Westen mein größter Feind war. Deshalb sang ich mit ganzer Überzeugung: „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren …“
Schon früh wurden uns so Feindbilder vermittelt, Hass und Menschenverachtung in unsere Kinderherzen gesät. Spätestens als Jugendliche während meiner Ausbildung begriff ich, dass Christen gefährlich und böse waren. Eine Mitschülerin hatte sich vor Sehenswürdigkeiten in unserer Stadt fotografieren lassen, auch vor einer sehr schönen Kirche auf dem Marktplatz. Als sie uns die Fotos zeigte, sah ein Dozent das Bild, wo sie vor der Kirche stand. Das war der Grund, weshalb sie exmatrikuliert wurde, weil „das, was die Leute in der Kirche machen, nicht das ist, was unserer sozialistischen Erziehung entspricht“. So wusste ich, dass Kirche etwas ganz Schlimmes war, wo ich niemals hingehen durfte. Bis dahin hatte ich nie etwas über Christen, Glauben oder Kirche gehört. Ich kannte auch niemanden, der zur Kirche ging. Nicht, dass ich es ablehnte oder kritisch sah. Ich hatte einfach gar keinen Bezug dazu. Die Kirchen in der Stadt waren für mich genauso Gebäude wie das Rathaus oder die Turnhallen und Kulturhäuser.
Das Schulgebäude, in dem wir als Kinder Unterricht hatten, war ein altes Gebäude. Schon meine Mutter war dort zur Schule gegangen. In den 1960er-Jahren waren die Geldmittel noch sehr knapp, sodass es seit dem Krieg keine wesentlichen Erhaltungsmaßnahmen gegeben hatte. Unser Klassenraum hatte zu meinem Leidwesen eine Tür, die immer wieder von selbst aufging, oder man musste sie zuknallen.
Der Schüler, der der Klassentür am nächsten saß, musste dem Lehrer zum Stundenbeginn die Tür öffnen und sie wieder schließen. Eine Zeit lang hatte ich diesen Türdienst zu tun. Unser Staatsbürgerkundelehrer, also Politiklehrer, konnte es gar nicht leiden, wenn ich diese Tür etwas knallte. Aber wenn die Tür im Unterricht von selbst wieder aufging, mochte er das auch nicht. Ich konnte es ihm nie recht machen. Eines Tages packte mich die Wut, ich krachte die Tür zu und sagte laut und verärgert: „Echte deutsche Wertarbeit!“ Ich hatte glatt vergessen, dass ich den Mund halten sollte.
Jetzt musste ich nach vorn vor die Klasse kommen und erklären, was ich denn meinte mit „echter deutscher Wertarbeit“. Ich hatte keine schlechten, gar staatsfeindlichen Gedanken. Mich hatte einfach nur die Tür aufgeregt und dass der Lehrer jedes Mal rummeckerte. Dank meiner Redegewandtheit, die ich damals schon hatte, konnte ich mich herauswinden: „Ich wollte sagen, dass in der DDR sehr gute Produkte hergestellt werden, die in der ganzen Welt gefragt sind.“ Da war ich gerade noch mal davongekommen.
Nach der Jugendweihe lernte ich Akkordeon spielen, auch beim Kapellmeister des Landestheaters. Eine meiner schönsten Erinnerungen war ein Wettbewerb, bei dem ich auf dem Akkordeon den Freiheitschor aus der Oper „Nabucco“ von Giuseppe Verdi spielte. Ich gewann und bekam als ersten Preis ein Weltmeister-Akkordeon im Wert von 2.000 Mark. An manchen Abenden lud mich der Kapellmeister ins Theater ein. Dann durfte ich in der Regieloge sitzen und in der Pause durfte ich in sein Arbeitszimmer gehen, was eine besondere Ehre für mich war. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Es klopfte an des Kapellmeisters Tür und ein Musiker aus dem Orchester trat ein. Er verneigte sich und sagte: „Herr Kapellmeister, bitte entschuldigen Sie, ich habe mich im zweiten Akt verspielt.“ Wow. So etwas hatte ich zuvor noch nie gehört.
Ich verspielte mich im Akkordeonorchester sogar bei einem Solo, aber nie habe ich mich entschuldigt. Als mir das in der Orchesterprobe passiert war, sagte der Kapellmeister vor dem versammelten Orchester: „Karin, das machst du schon ganz gut, das ist nur noch nicht zu gebrauchen.“ Boa. Ich war wütend, nahm mein Akkordeon, ging nach Hause und kam nie wieder ins Orchester, nur noch zum Einzelunterricht. Der Kapellmeister hat nie wieder etwas dazu gesagt. Danach erst hatte ich das Erlebnis im Theater, als der Musiker sich entschuldigte.
Mehr als zwanzig Jahre später war ich in einer Kirche und probte mit dem Kantor für Weihnachten das „Ave Maria“. Ich spielte Flöte und er begleitete mich an der Orgel. Zum selben Zeitpunkt war „mein“ alter Kapellmeister auch in der Kirche. Ich stand mit dem Kantor oben auf der Empore, der Kapellmeister unten zwischen den Bankreihen. Plötzlich rief er nach oben, wer da sei. Ich schaute hinunter und grüßte ihn. „Du, Karin?“ – „Ja, Herr Kapellmeister“, war meine Antwort. Er sprang förmlich die Treppen nach oben, begrüßte den Kantor. Dann gab er mir die Hand und hielt sie fest. Er schaute mir richtig tief in die Augen. In dem Moment wusste ich, was er wollte. Mir schossen die Tränen in die Augen. Er fragte nur: „Warum?“ Nach mehr als zwanzig Jahren schämte ich mich wie ein Kind und sagte kleinlaut: „Entschuldigen Sie, Herr Kapellmeister.“ Er hielt meine Hand immer noch und schaute mich immer noch an: „Lauf nie wieder weg. Das tut man nicht.“
Ja, er hatte so große Stücke auf mich gehalten, hatte sich oft auch privat um mich gekümmert, weil er wusste, dass ich es zu Hause nicht leicht hatte. Mit neunzehn Jahren durfte ich schon ein Solo im Orchester spielen. Und dann lief ich einfach weg. Wie undankbar war ich