Überleben nicht erwünscht. Karin Bulland

Überleben nicht erwünscht - Karin Bulland


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ja auch in vielfältiger Weise getan.

      Bei diesem Besuch der Gedenkstätte in Buchenwald sahen wir die Verbrennungsöfen und erfuhren, dass sogar aus Menschenhaut Lampenschirme gemacht worden waren. Grausamkeiten, die unser Denkvermögen überstiegen. Dann zeigte man uns einen Film, in dem Naziverbrecher, die man nach dem Krieg dorthin gebracht hatte, das Lager aufräumen mussten. Es klang einfach schrecklich: „Man hat das Lager von Leichen geräumt.“

      Als ich das damals alles so sah, beschloss ich für mich, alles zu tun, damit es nie wieder Krieg geben sollte.

      In der Schule sagte man uns immer wieder, dass viele Kriegsverbrecher aus der DDR geflohen waren und nun in der BRD lebten. Wir würden zwar keinen Krieg gegen die BRD führen, aber dennoch würde es eine „Kriegerische Auseinandersetzung“ geben, den Kalten Krieg. Das war alltägliche Rethorik in den Schulen und Medien.

      Als ich zu Hause meiner Mutter erzählte, dass die Faschisten (so nannte man die Nazis in der DDR) sogar aus Menschenhaut Lampenschirme gemacht hatten, war meine Mutter entrüstet. Sie schlug mich ins Gesicht und sagte: „Davon wird hier nie wieder gesprochen. Dein Großvater musste auch dort sein!“

      „Was“, fragte ich entsetzt, „die Faschisten haben Opa auch dort eingesperrt?“

      Meine Mutter ging aus dem Zimmer und ich wusste, dass ich nie wieder danach fragen konnte.

      Die Geschichte meiner Familie fing an, mich zu interessieren, aber ich hörte nie wieder etwas darüber.

      Auch wenn wir die Geschichte unserer Vorfahren nicht kennen, hat sie doch gewaltige Auswirkungen auf unser Leben. Wenn Gott sagt, dass er die Sünden der Vorväter heimsuchen wird bis in die vierte Generation, dann tut er das auch (vgl. 2. Mose 34,7). In einem späteren Kapitel werde ich darauf noch genauer eingehen.

      Als Kind und Jugendliche wusste ich von den Sünden meiner Vorfahren nichts, auch nichts von den Konsequenzen, die es für mich hatte. Mein Leben war für mich aber oft einfach enttäuschend, frustrierend, verletzend, demütigend, entwertend – alles Negative schien sich in mir gesammelt zu haben und ich wusste nicht warum.

      Andererseits wurde ich dadurch eine Kämpferin. Ich unternahm wieder und immer wieder den Versuch, meiner Mutter zu beweisen, dass ich gar wohl nützlich war und etwas konnte. So wollte ich bei meiner Mutter Anerkennung bekommen. Meine Mutter zeigte gern anderen Leuten meine meist sehr guten Schulnoten. Wem musste ich nicht alles meine Zeugnisse zeigen! Oder ich musste meine Kunststückchen vorzeigen: Mit acht Jahren konnte ich schon Handstand an der Tischkante machen, natürlich bei gedecktem Kaffeetisch, und dabei einen Schluck Kaffee aus der guten Sammeltasse trinken. Ja, da war meine Mutter stolz auf mich. Aber nur so lange, bis der Besuch gegangen war. Wenn wir dann abends in der Familie wieder allein waren, bekam ich jedes Mal zu hören, dass ich ein Angeber sei. Dann wurde ich in mein Zimmer geschickt und bekam an dem Tag nichts mehr zu essen – weil ich’s nicht verdient hätte.

      Prügel und Essensentzug waren wichtige Erziehungsmittel meiner Mutter für uns drei Kinder. Der Teppichklopfer hing an der Tür des Kachelofens im Wohnzimmer, immer in Reichweite. Und meine Mutter fand oft Gründe, ihn zu benutzen. Aus der Schule eine Zensur schlechter als drei mit nach Hause zu bringen, hatte schmerzhafte Folgen. So büffelte ich, was das Zeug hielt. Mir fiel das Lernen leicht. Das war mein großes Glück.

      Die verräterische Fernsehuhr

      Als ich sieben Jahre alt war, kam ich zur Schule. Meine Einschulung 1961 fiel genau in den Zeitraum des Mauerbaus. Ich hatte nichts von der hochgefährlichen Situation des Kalten Krieges mitbekommen. Zu der Zeit ließ ich meine Kreisel tanzen und fuhr Roller. Was ich damals sehr ungern tat, war Stricken. Als Sechsjährige hatte meine Mutter tatsächlich von mir verlangt, dass ich nicht nur stricken lernte, sondern vor meiner Einschulung für mich selbst eine Jacke strickte. Ich war immer ein lebhaftes Kind, das sich am liebsten den ganzen Tag bewegte. Das stundenlange Stillsitzen war eine Strafe für mich. Meine Mutter hatte in jeden Wollknäuel ein 50-Pfennig-Stück eingewickelt. Wenn ich das Knäuel verstrickt hatte, durfte ich mir etwas davon kaufen. Ich habe das gehasst. Einmal warf ich vor Wut das Geldstück in den Gully.

      Meine Mutter war stolz darauf, dass ich doch tatsächlich zu meinem ersten Schultag eine selbst gestrickte Jacke trug. Ich mochte diese Jacke nie. Dennoch blieb mir die Freude an Handarbeiten, besonders am Stricken, mein Leben lang erhalten. In der DDR hatte ich nie einen gekauften Pullover oder eine Jacke. Ich machte alles selbst und hatte an den Gestaltungsmöglichkeiten meine große Freude. Auf diese Weise hatte ich immer individuelle Kleidung, was mir viel bedeutete.

      Die politische Situation in der DDR war 1961, zur Zeit meiner Einschulung, sehr angespannt. Das Volk wurde bespitzelt und auf jede erdenkliche Art und Weise ausgehorcht.

      Auch uns Kinder horchte man aus. So wurden wir gefragt: „Wer schaut abends das Sandmännchen?“ Das war der Abendgruß des Kinderfernsehens. Viele Kinder meldeten sich. Und die Lehrerin weiter: „Nach dem Abendgruß, was seht ihr da auf dem Bildschirm?“ Unsere Antwort: „Die Uhr.“ – „Ja, Kinder“, fragte die Lehrerin weiter, „hat die Uhr Punkte oder Striche?“ Um 19.00 Uhr vor der „Heute“-Sendung des ZDF ist immer eine Uhr zu sehen. Damals hatte diese Uhr Striche. Die Uhr im DDR-Fernsehen hatte Punkte. Durch die Antworten der Kinder war schnell klar, wer zu Hause das „staatsfeindliche Westfernsehen“ schaute. Jene Kinder, die die Uhr mit Strichen im Fernsehen sahen, brachten durch ihre Antwort ihre Eltern in echte Not. Diese bekamen „Besuch“ von der Staatssicherheit (Stasi). Oder die Eltern wurden zum Schuldirektor vorgeladen, um zu prüfen, ob die Eltern überhaupt in der Lage seien, ihre Kinder zu selbstbewussten sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen. Aus solch kleinen Dingen konnten richtig schwerwiegende Probleme für eine Familie werden.

      Schon zu Beginn des ersten Schuljahres war ich monatelang im Krankenhaus, sodass ich im ersten Halbjahr der ersten Klasse keine Schulnoten bekam. Wir bekamen damals schon im ersten Schuljahr Zensuren. Meine Lehrerin kam mehrmals in der Woche zu mir ins Krankenhaus und unterrichtete mich. Ich bekam Aufgaben, die ich dann im Bett erledigen musste. Wenn meine Lehrerin kam, war ich richtig stolz, denn andere Kinder hatten dieses Privileg nicht. Und deshalb machte ich auch die schriftlichen Arbeiten besonders gern. Als kranker Spatz bekam ich dann immer druntergeschrieben: „Lob“, sogar mit dem Rotstift der Lehrerin. Darauf war ich natürlich erst recht stolz.

      Wir hatten damals noch großen Respekt vor unseren Lehrern. Wir hätten uns nie getraut, irgendetwas auf dem Lehrertisch anzufassen. Dem Lehrer das Klassenbuch hinterhertragen zu dürfen, war fast schon eine Auszeichnung.

      Freundinnen oder Freunde hatte ich keine, eigentlich nie. Meine Mutter erlaubte mir niemals, eine Spielkameradin mit nach Hause zu bringen. Das durften meine Brüder auch nicht. So trafen wir uns dann eben auf der Straße. Allerdings hatte ich dafür nur sehr wenig Zeit.

      Ab dem Schulbeginn lernte ich Flötespielen, beim Kapellmeister des Landestheaters, was auch ein großes Privileg war. Im Landestheater bekam ich auch Sprachunterricht. Ich lernte als sächsisches Kind Hochdeutsch zu sprechen und Gedichte zu rezitieren. In späteren Jahren lernte ich auch zu moderieren. Meine Eltern brauchten für all das nicht eine Mark zu zahlen. Man hielt mich für begabt und förderte mich. Die Talentförderung war in der DDR wirklich gut. Durch die hohe Geldstrafe, zu der mein Vater 1953 verurteilt worden war, waren wir wie erwähnt über viele Jahre hin eine sehr arme Arbeiterfamilie. Und doch konnte ich zwei Instrumente spielen lernen und Sport treiben. Mein Vater konnte ein Ingenieurstudium machen. Meine beiden Brüder studierten Mathematik und meine Ausbildung als Heimerzieherin und Grundschullehrerin entspricht wohl der heutigen Fachhochschule, allerdings ohne Abitur.

      Aber es war Voraussetzung, dass die Eltern loyal gegenüber der diktatorischen DDR-Regierung sein mussten. Ich kann mich nicht erinnern, dass in unserer Familie auch nur einmal kritisch über ein politisches Thema gesprochen wurde. Ich hörte aber auch nie eine positive Äußerung über den DDR-Staat. Meine Mutter weigerte sich jedes Jahr, zur Demonstration am 1. Mai zu gehen, was mit Sicherheit eine Notiz in der Personalakte brachte. Sie weigerte sich auch mehrmals, zur Wahl zu gehen, womit sie ihre Ablehnung dem Staat gegenüber kundtat. Uns Kinder dagegen schickte sie überallhin, damit wir keine Probleme bekamen. Meine


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