Überleben nicht erwünscht. Karin Bulland

Überleben nicht erwünscht - Karin Bulland


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fürs Leben, gewiss eine späte Lektion, aber umso lehrreicher. Ich bin nie wieder einfach weggelaufen, ohne etwas zu sagen. Nun hatte ich seine Vergebung und war sehr froh darüber.

      Dann gab er dem Kantor und mir fürs „Ave Maria“ ein paar Tipps, hörte zu und meinte: „Hervorragend, Karin, wie immer.“ Wir hatten nach mehr als zwanzig Jahren Frieden geschlossen. Später erfuhr ich, dass er Christ war.

      Diese öffentlichen Auftritte machten mich schon als Kind zu einer gewissen Persönlichkeit. In der Schule wurde ich ständig als Vorbild hingestellt, weil ja auch meine Schulnoten recht gut waren. Das erzeugte eine Distanz zu anderen Schülern und manchmal war ich auch ziemlich überheblich. In einem Zeugnis bescheinigte mir der Klassenleiter sogar ein „übersteigertes Selbstbewusstsein“. Schon damals wurde ich beklatscht und auch beneidet. Als Jugendliche sagte ich mal einem solchen Neider: „Wenn du auch so viel übst und trainierst wie ich, dann kannst du das auch.“

      Heute weiß ich: Jeder Mensch hat Gaben. Es gilt sie zu entdecken und dann braucht es entsprechend viel Übung, Hingabe und Fleiß, um sie zu entwickeln. Ich habe als Kind nicht mit Puppen gespielt. Ich habe gelernt, geübt und trainiert. Es hat mir viel Spaß gemacht, aber es war auch harte Arbeit.

      Zu diesen kulturellen Dingen trainierte ich noch zwei bis drei Mal in der Woche Geräteturnen. Als ich acht Jahre alt war, fragte mich ein Trainer, was ich einmal werden wolle. Wie aus der Pistole geschossen antwortete ich: „Weltmeister!“ Das bin ich zwar nie geworden, aber mir hat das alles richtig Spaß gemacht, bekam ich doch in der Turnhalle die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ich in meiner Familie nie hatte. Jedes Mal, wenn mein Name in der Zeitung stand, war meine Mutter total stolz, aber nur in der Öffentlichkeit. Zu Hause lief das anders ab. Meine Mutter hatte mir strickt den Leistungssport verboten. Ich durfte zwar zum Training gehen, aber nicht an Wettkämpfen teilnehmen. Lehrer, Trainer, Onkel und Tanten, Oma und Opa – alle versuchten, mit meiner Mutter zu reden. „Nein, ich verkaufe mein Kind nicht an den Staat“, war ihr Argument. Das kam einer Aufforderung zum Lügen gleich.

      Alle haben mich unterstützt. Da meine Mutter dafür sorgte, dass ich keine Sportkleidung hatte, außer für den Schulsport, bekam ich sie vom Sportverein. Die Kleidung blieb bei meinem Trainer. Wenn Wettkampf war, lud er oder meine Klassenleiterin mich an den entsprechenden Wochenenden zu sich nach Hause ein. So konnte ich zu den Wettkämpfen gehen.

      Einmal gab es eine ganz dumme Situation. Ich hatte mir allerlei Lügen ausgedacht, was ich am Wochenende mit meiner Klassenlehrerin gemacht hätte. Meine Medaillen, die ich bei Meisterschaften gewonnen hatte, hatte ich vorsorglich im Schuppen in einem Schuhkarton versteckt. Am Dienstag stand dann allerdings in der Zeitung, dass ich im Wettkampf die Goldmedaille gewonnen hatte. Als ich aus der Schule kam, stand meine Mutter schon mit dem Ausklopfer in der Tür. Ich sah die Zeitung und ein Bild von mir, und schon sauste der Teppichklopfer auf mich herunter.

      Meine Mutter war nicht zimperlich. Sie war ja selbst mit Gewalt aufgewachsen. Sie wollte wissen, wo die Medaille war. „Im Schuppen“, sagte ich weinend.

      „Her damit“, und schon zog sie mich die Treppen hinunter. Was, wenn sie den Schuhkarton entdeckt hätte? Zitternd vor Angst holte ich die Medaille und gab sie meiner Mutter. Wir hatten damals noch keine Toilette in der Wohnung, sondern über dem Hof ein Plumpsklo. Meine Mutter packte mich an den Haaren, nahm die Medaille und warf sie in die Jauchegrube, mit der Bemerkung: „Damit dir dieser Sportmist ein für alle Mal vergeht!“

      Und wieder hörte ich sie sagen, wie unnütz ich sei und dass nur vergessen worden sei, mich kleinerweise totzuschlagen. Und auch diesmal sagte ich vor Angst kein Wort und wehrte mich nicht. Was sollte ich als Kind auch tun?

      Das alles hinderte mich aber nicht, jede Gelegenheit zum Üben zu nutzen. So ging ich die Treppen öfters mal im Handstand nach oben. Die Teppichstange wurde zu meiner Reckstange, die Wiese zu meiner Turnmatte. Ich war wirklich quicklebendig und stillsitzen zu müssen war anstrengend wie Arbeit.

      Oft lief ich weinend zu meiner Oma, der Mutter meiner Mutter. Zu meiner Mutter war die Oma vermutlich auch eine sehr harte Frau gewesen.

      Aber mit mir ging sie sehr lieb um. Jedes Mal, wenn ich weinend kam, nahm sie mich auf den Schoß, zog ihr großes Taschentuch heraus und putzte mir die Nase. Dann kochte sie mir eine Tasse Kakao. Während die Milch heiß wurde, erzählte ich, was wieder passiert war. „Trink erst mal deinen Kakao, dann sieht die Welt wieder ganz anders aus.“ Das sagte sie immer. Und immer hatte sie recht.

      Noch heute koche ich mir einen guten Kakao, wenn die Seele weint. Und noch heute sieht die Welt hinterher anders aus. Probleme löst das natürlich nicht. Irgendwann ist der Kakao kalt oder ausgetrunken. Unser Leben verändert das nicht. Da brauchen wir eher eine Veränderung unserer Denk- und Sichtweise auf die Dinge.

      Nach der Wende traf ich zunehmend Christen aus den westlichen Bundesländern. Auf einer gemeinsamen Reise besuchten wir einen Pionierpalast, wo Kinder ein großartiges Kulturprogramm zeigten. Das versetzte mich in meine eigene Kindheit zurück. Ich erinnerte mich an die vielen schönen Auftritte und Wettkämpfe und genoss noch einmal das Gefühl als Siegerin mit dem Pokal in der Hand und der Goldmedaille um den Hals. Den Moment, als ich im Theater hörte, dass ich den Akkordeon-Wettbewerb gewonnen hatte, und das neue, für meine Eltern unerschwingliche Akkordeon der Marke Weltmeister um die Schultern gelegt bekam und vor Glückseligkeit einfach nur noch weinte. So wie für mich die Kultur und der Sport die Gelegenheiten waren, wo ich Zuwendung von meinem Kapellmeister und den Sporttrainern bekam, so war es wohl für diese Kinder nicht viel anders. Sie waren auserwählt, mit ihren Eltern in der Hauptstadt zu wohnen, Sport zu treiben und Musik zu machen. Diese Auftritte im Pionierpalast waren die Belohnung für viele Stunden Fleißarbeit. Der Beifall der Zuschauer war ihr Lohn.

      Aber die Christen aus den westlichen Bundesländern sahen in den Kindern arme Opfer von Drill. Sie empfanden es als unmöglich, was den Kindern abverlangt wurde. All unsere Erklärungen und Beteuerungen, wie gern wir Kinder im Kommunismus trainiert hatten, nützten rein gar nichts. Wir gerieten in der Gruppe deshalb echt aneinander. Da zeigte sich einmal mehr, wie wenig wir aus Ost- und Westdeutschland voneinander wussten, und wir wissen noch heute viel zu wenig voneinander.

      Mich lehrten der Sport, die Musik und die Kultur, zu kämpfen, mich durchzubeißen, auch Niederlagen einzustecken. Und ich lernte, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Ich hatte Umgang mit Persönlichkeiten, besonders im kulturellen Bereich, die das durchschnittliche Arbeiterkind nicht hatte. Das gab mir Selbstbewusstsein und vor allem ein Selbstwertgefühl, was für mich und meine Zukunft sehr wichtig wurde. Ich machte die Erfahrung, dass ich alles lernen konnte, wenn ich nur wollte und fleißig war. Sicher, ich weinte manche Träne, aber ich lernte, nicht aufzugeben. Ich fiel hin, aber ich stand auch wieder auf. Für mein späteres Leben war das vielleicht sogar lebensrettend. Denn ich sollte noch ganz andere Dinge durchkämpfen müssen.

      Lehrer, Musiker, Trainer – das waren wertvolle und wichtige Menschen in meinem Leben, die mich, so gut sie konnten, unterstützt haben. Etwas wurde mir damals wichtig: Sie waren alle Parteimitglieder. In meinen Augen waren sie gute Menschen. Meine Eltern dagegen waren das nicht. Wie meine Mutter wollte ich nicht werden. Aber die Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun hatte, waren für mich Vorbilder. So wollte ich auch werden. Das war für mich der Hauptgrund, weshalb ich sofort, als ich achtzehn Jahre alt war, in die SED eintrat. Das heißt, man musste sich erst als Kandidat ein Jahr bewähren. Dann wurde man Mitglied.

      Ich wollte so gern zum Gymnasium und später Sport studieren. Trainerin für Geräteturnen wollte ich werden. Meine beiden Brüder waren bereits dabei, ihr Abitur zu machen. Sie haben dann beide Mathematik studiert. Meine Mutter war der Meinung, es sei genug, wenn die Jungen in der Familie studierten, einer sollte arbeiten gehen und Geld verdienen. Damit war ich gemeint. Die Jungen konnten von zu Hause ausziehen, weil sie für ihr Studium im Internat wohnen mussten.

      Ich konnte das nicht.

      Es war für mich schwierig, mit meiner Mutter täglich auszukommen. Sicher lag das nicht nur an meiner Mutter. Ich war ein Teenager und ärgerte mich oft darüber, dass mir dies und jenes verboten wurde, was andere Jugendliche in meinem Alter selbstverständlich durften. Oh ja, meine Zunge war manchmal ziemlich spitz. Aber meine Mutter wurde auch sehr schnell aggressiv


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