Er ging voraus nach Lhasa. Nicholas Mailänder
hatte genau gewusst, dass Schneider und Aschenbrenner hervorragende Chancen gehabt hätten, den Gipfel des Nanga Parbat zu erreichen und damit als erste Menschen auf einem Achttausender zu stehen. Paul Bauer plante für das Jahr 1935 einen weiteren Versuch am Kangchenjunga mit dem Ziel, das Rennen um den ersten Achttausender für sich zu entscheiden.32 Dies lässt den Schluss zu, dass Bauers folgenschwere Denunziation darauf abzielte, seine aussichtsreichsten Konkurrenten schachmatt zu setzen.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Mitteilungen des Fachamtes Bergsteigen im März des folgenden Jahres in Fraktur titelten: „Keine deutsche Himalajaexpedition im Jahre 1935“. Paul Bauer verheimlichte nicht, wer die Notbremse gezogen hatte: „Der Herr Reichssportführer hat […] die Entscheidung getroffen, dass im Jahre 1935 von den deutschen Bergsteigern kein Angriff auf den Nanga Parbat unternommen werden soll, weil es zeitlich unmöglich wäre, ein neues Unternehmen entsprechend vorzubereiten, ohne die noch unvollendete Abwicklung des letzten zu vernachlässigen. Auch gebietet die Majestät des Todes Zurückhaltung.“33
Allerdings beharrte der DuÖAV auf seinem Vorhaben, eine weitere Expedition zum Nanga Parbat zu entsenden. Die Mehrheit im Hauptausschuss favorisierte in der Sitzung am 1. Juni 1935 explizit die Teilnahme von Erwin Schneider und Peter Aschenbrenner. Der neu in den Ausschuss gewählte Bauer-Vertraute Karl Wien äußerte mit Hinweis auf die ablehnende Haltung des Reichssportführers Bedenken gegen Schneider als Expeditionsleiter. Auf Antrag des Vereinsvorsitzenden Raimund von Klebelsberg billigte der Hauptausschuss schließlich einstimmig den Plan einer DuÖAV-Expedition zum Nanga Parbat im Jahr 1936 mit deutschen und österreichischen Teilnehmern. Philipp Borchers wurde mit den Vorbereitungen beauftragt. Diesem Beschluss stimmten alle Mitglieder des Hauptausschusses zu – auch die dem Fachamtsleiter nahestehenden Eugen Allwein, Lutz Pistor und Karl Wien.34
Parallel zum Alpenverein bereitete auch Paul Bauer in Abstimmung mit dem Reichssportführer und gemeinsam mit Fritz Bechtold eine Expedition zum Nanga Parbat vor und veröffentlichte diese Absicht in der Augustausgabe der Mitteilungen des Fachamtes. Als Leiter der Expedition, die im Jahr 1937 stattfinden sollte, war derselbe Karl Wien vorgesehen, der als Hauptausschuss-Mitglied für eine Alpenvereinsexpedition zum selben Ziel gestimmt hatte.
Bereits auf verlorenem Posten, diskutierte der Hauptausschuss des DuÖAV am 30. und 31. August 1936 in Bregenz noch einmal ausführlich die zu entsendende Nanga-Parbat-Expedition und beharrte auf Philipp Borchers als Expeditionsleiter – gegen die drei Stimmen der Bauer-Fraktion.35 Es war das letzte Mal, dass das zuständige Entscheidungsgremium des größten Bergsteigerverbandes der Welt sich mit dem Thema beschäftigte.
Nach Ausschaltung des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins als Veranstalter von Expeditionen zu den Achttausendern machte sich Paul Bauer stringent daran, die unter seiner Ägide vollzogene weitgehende Gleichschaltung des deutschen Auslandsbergsteigens institutionell abzusichern. Und zwar durch die Einrichtung der sogenannten Deutschen Himalaja-Stiftung im Jahre 1936. Mit der Geschäftsführung bedachte Paul Bauer seinen bewährten Kameraden Peter Aufschnaiter. Einen besseren Chefadministrator hätte er sich kaum wünschen können. Denn Aufschnaiter war umfassend gebildet, beherrschte eine Vielzahl von Sprachen schriftlich und mündlich fast wie ein Muttersprachler, verfügte über hervorragende Kontakte im In- und Ausland, war bienenfleißig, sehr gut organisiert, wegen seiner bescheidenen, freundlichen Art allgemein beliebt – und seinem Freund und Vorgesetzten Paul Bauer bedingungslos ergeben. Diese Loyalität kennzeichnet auch die von Peter Aufschnaiter im Jahr 1939 verfasste Darstellung des Gründungsprozesses der Himalaja-Stiftung:
Als Fritz Bechtold die Nanga-Parbat-Kundfahrt 1934 nach ihrem tragischen Ende in die Heimat zurückgebracht hatte, tat er sich mit Paul Bauer zusammen, und beide setzten einen Gedanken in die Tat um, der bei den Teilnehmern der beiden Kantschfahrten schon lange im Keim vorhanden gewesen war: Sie schufen einen Mittelpunkt für die deutschen Himalaja-Unternehmungen, der in den Wechselfällen des Schicksals mehr Beständigkeit hat als das Leben eines einzelnen. Bechtold und Bauer gründeten im Verein mit dem Reichssportführer die Deutsche Himalaja-Stiftung. Der Reichssportführer stattete sie mit RM 5000.– aus, Fritz Bechtold stiftete RM 5000.– aus den Erträgnissen des ersten Nanga-Parbat-Films, Paul Bauer stiftete gleichfalls RM 5000. – aus den Honoraren für Bücher, Veröffentlichungen und Vorträgen über die beiden Kantschfahrten, die er verwaltete. […]
Im Mai 1936 wurde die Stiftung von der Regierung genehmigt mit dem Zweck, bergsteigerische Kundfahrten in den Himalaja und andere entlegene Gebirge durchzuführen und zu fördern und Mittel für diesen Zweck zu werben. […]
Noch im Jahre ihrer Gründung, 1936, rüstete die Stiftung eine Rundfahrt in den Sikkim-Himalaja aus, die bergsteigerisch sehr interessante Ergebnisse brachte und der vor allem zur Überraschung der gesamten Bergsteigerwelt die Ersteigung des bis dahin für unmöglich angesehenen Siniolchu gelang. […]36
Abgesehen davon, dass diese Schilderung ein Musterbeispiel ist für die Umdeutung einer feindlichen Übernahme in eine der Förderung des Bergsteigens verpflichtete Mission, enthält sie auch eine aufschlussreiche sachliche Ungenauigkeit. Denn tatsächlich begannen die Vorbereitungen für die Kundfahrt zum Siniolchu nicht erst 1936, sondern sie waren bereits Ende November 1935 in vollem Gang. Dies geht aus einem in englischer Sprache verfassten Brief an den Privatsekretär Seiner Hoheit des nepalesischen Maharaja in Kathmandu hervor, den Paul Bauer am 27. November 1935 unterzeichnete:
„[…] eine kleine Gruppe von drei oder vier deutschen Bergsteigern unter meinem Kommando beabsichtigt zwischen den Monaten August und Oktober nächsten Jahres, 1936, die Besteigung einer Reihe von hohen Bergen durchzuführen, die an der Grenze zwischen Sikkim und Nepal, liegen – nicht jedoch des Gipfels des Kangchenjunga selbst. […] Wir […] bitten demütig darum, sollte dies notwendig sein um Leben zu retten, mit Erlaubnis Seiner Hoheit nepalesischen Boden betreten zu dürfen, wobei wir versprechen, das Territorium Nepals so schnell wie möglich zu verlassen und nach Sikkim zurückzukehren über die Pässe Lhonak La, Jonsong La oder Kambachen, Tseram, Talung La oder Kann La. […] Ich vertraue darauf, dass Ihre Hoheit geneigt sein dürfte, unsere Anfrage zustimmend zu beantworten.
Ich habe die Ehre, sehr geehrter Herr, als Euer allergehorsamster Diener zu verbleiben.
Paul Bauer
Führer der Deutschen Himalaja
Expeditionen 1929 und 1931“37
Höchstwahrscheinlich dürfte der Unterzeichnende diese ehrerbietigen Zeilen nicht selbst verfasst haben, sondern sein Freund Peter Aufschnaiter.
Da im AAVM-Jahresbericht 1934/35 als Wohnort von Peter Aufschnaiter zum Stichtag 1. November 1935 noch St. Johann in Tirol genannt wird38, ist es anzunehmen, dass er im Laufe des Monats wieder nach München übersiedelte, um die für den Sommer 1936 geplante Siniolchu-Kundfahrt seines Förderers vorzubereiten. Vorerst dürfte Aufschnaiter jedoch hauptsächlich als Geschäftsführer des AAVM tätig gewesen sein, betraut mit der ehrenvollen Aufgabe, den notorisch auf seine Eigenständigkeit versessenen Akademikerklub als Sektion in den DuÖAV und damit in den Deutschen Bergsteigerverband einzugliedern.39
Die Rakhiotflanke des Nanga Parbat, von der Gegend um die Märchenwiese aus gesehen.
Die Deutsche Himalaja-Stiftung wurde am 28. Mai 1936 vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus in München genehmigt und in das Verzeichnis der von der Regierung von Oberbayern zu beaufsichtigenden Stiftungen aufgenommen.40 Reichssportführer von Tschammer und Osten bestellte Fritz Bechtold zum Vorstand der Stiftung.41 Diese war zwar de jure eine selbständige Institution. Die Entscheidungsgewalt über die Aktivitäten der Stiftung lag jedoch beim Reichssportführer, der die Weisungsbefugnis an Paul Bauer als Chef des Fachamtes Bergsteigen übertrug. De facto war die Deutsche Himalaja-Stiftung im Dritten Reich damit nichts anderes als die für Auslandsbergfahrten zuständige Abteilung des nationalsozialistischen Fachamtes für Bergsteigen – geleitet von Peter Aufschnaiter.
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