Eine Leiche zum Tee - Mord in der Bibliothek. Alexandra Fischer-Hunold
war ziemlich verwirrt, als er mit uns auf den Waldrand zuschlich. Hinter einem Strauch gingen wir in die Hocke.
»Da ist es ja!«, wisperte Tante Clarissa, während sie ihr Opernglas vor die Augenlöcher ihres Bettlakens hielt. »Wir sind also nicht zu spät gekommen. Los jetzt!«
»Wohin denn?«
»Weiter ran natürlich! Bevor wir ihm tüchtig einheizen, will ich erst mal sehen, was es überhaupt treibt. Und vielleicht haben wir Glück und erhaschen einen Blick auf das Gesicht unter dem Laken.«
Leise brachen die Ästchen unter unseren Füßen, als wir uns Schritt um Schritt an ein zerbrochenes Fenster heranschlichen. Das mit dem Sehen war gar nicht so unkompliziert. Ständig verrutschte das blöde Bettlaken und plötzlich war alles weiß vor den Augen. Hinter einer dicken Buche gingen wir in Deckung.
»Dorothy hat doch von Gespenstern gesprochen, oder? Plural?«, flüsterte Tante Clarissa mir nachdenklich zu.
Ja, das hatte sie. Aber auch ich sah nur ein einziges Gespenst. Mit einer Taschenlampe in der Hand geisterte es durch die Kirche. Allerdings konnte von Schweben ganz und gar nicht die Rede sein. Ganz offensichtlich suchte es gezielt nach etwas. Gerade ging es hinter einer steinernen Bank in die Hocke. Ich musste mich ganz hoch auf die Zehenspitzen stellen, um beobachten zu können, wie es Laub und Efeu darunter zur Seite schob, auf die Knie ging und unter die Bank krabbelte. Jetzt ragte nur noch sein weißer Gespensterpo darunter hervor. Genau in diesem Moment bellte Percy los.
Ich wirbelte herum und blickte direkt in die dunklen Augenhöhlen eines anderen Bettlakengespenstes. Ich schrie auf. Tante Clarissa schrie auf und Percy knurrte wie eine große, gefährliche Bulldogge. Das Gespenst war mindestens genauso erschrocken wie wir. Es stolperte rückwärts, seine Taschenlampe landete im Laub. Dann fuhr es auf dem Absatz herum und rannte mit wehendem Bettlaken davon, als wäre nicht Percy, sondern der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.
»Percy, hierhin!«, rief ich, schob beide Hände unter mein Bettlaken, was ziemlich lange dauerte, und steckte mir Zeige- und Mittelfinger zwischen die Lippen, um meinem Befehl einen eindringlichen Pfiff hinterherzuschicken. Auch wenn Percy nicht jedes Mal hört, wenn ich ihn rufe: Der Pfiff funktioniert immer.
»Da!« Tante Clarissa zupfte aufgeregt an meinem Bettlaken und deutete auf den Innenraum der Kirche. Das erste Gespenst war wieder unter der Steinbank hervorgekrabbelt. Sein Kopf schoss von links nach rechts und wieder zurück. Ausgerechnet jetzt kam Percy bellend wie ein Kettenhund auf uns zugejagt und verriet damit unser Versteck. Ich stand da, mitten im Mondlicht, und das Gespenst schaute mich direkt an. Nur gut, dass Tante Clarissa auf unserer Tarnung bestanden hatte.
Das Gespenst hockte unentschlossen vor der Steinbank, als Percy an mir vorbeijagte und wie eine Rakete durch das zersplitterte Kirchenfenster schoss. Offensichtlich machte ihm die Gespensterjagd richtig Spaß. Dem Gespenst da drinnen aber gar nicht. Es wartete nicht, bis Percy bei ihm war, sondern rannte los.
»Schluss, Percy!«, rief ich. Aber Percy hatte das Jagdfieber gepackt. Schon folgte er dem fliehenden Gespenst durch das schief in den Angeln hängende Kirchenportal in den dunklen Wald.
»Peeeeeer-cy!« Ich stieß einen verzweifelten, schrillen Pfiff aus. Tante Clarissa und ich lauschten. Kein Percy weit und breit. Dafür hörte ich in der Ferne Hundegebell. Irgendwo in der Nacht sprang ein Motor an und entfernte sich schnell. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Das Bellen war verstummt. Was wenn …. Wenn das Gespenst Percy mitgenommen hatte? So was durfte ich gar nicht denken. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Percy«, schniefte ich. »Percy, komm doch zurück!«
Und da kam er angelaufen. Stolz wie Oskar schleppte er ein nicht mehr ganz so weißes Bettlaken hinter sich durch das Unterholz.
»Oh, Percy!«, seufzte ich glückselig, zerrte mir das blöde Bettlaken vom Kopf, schlang die Arme um ihn und rieb meine Nase an seinem Fell.
Percy wand sich aus meiner Umarmung, machte Sitz und ließ das Bettlaken vor mir ins Laub fallen. Er hatte es nur für mich erbeutet!
»Huh!«, stieß Tante Clarissa atemlos hervor und presste sich die Hand auf die Brust. »Meine Güte!« Sie knipste ihre Taschenlampe an. »Eigentlich war das schon genug Aufregung für einen Abend. Aber trotzdem möchte ich noch wissen, was das Gespenst so Spannendes unter der Steinbank entdeckt hat.«
Während ich ihr über den Steinhaufen ins Innere der Kirche folgte, ließ ich den Schein meiner Taschenlampe immer wieder über den hinter mir liegenden Wald huschen. Ich traute dem Frieden nicht. Was, wenn es sich eines der Gespenster doch anders überlegte und umkehrte, um sicherzugehen, dass wir uns nicht den Gral unter die Nase rissen?
Tante Clarissa hielt schnurstracks auf die Steinbank zu. Um nicht über Steine oder Schlingpflanzen zu stolpern, leuchtete ich mit der Taschenlampe den Boden vor meinen Füßen ab, während ich ihr langsam durch die Kirche folgte. Nachdem Percy keine Gespenster mehr jagen durfte, verlegte er sich auf die andere große Leidenschaft der Terrier. Er buddelte, und zwar genau unter besagter Steinbank.
»Hey, Percy, was gibt es denn da?« Ich beugte mich zu ihm herunter. Schnaufend scharrte er auf dem Boden herum. Efeu, Blätter, Sand, alles flog wild durch die Luft. Der Strahl meiner Taschenlampe traf auf die quadratische Bodenplatte, die Percy bearbeitet hatte. Unter dem Dreck zog sich ein großer Sprung quer über den Stein. Wie ein Spinnennetz rankten sich mehrere mosaikhafte Sprünge darüber. Wahrscheinlich war die gesamte Kirche mal mit solchen Platten ausgelegt worden.
»Da ist doch gar kein Mauseloch, Percy!« Ich wollte mich gerade wegdrehen, als Tante Clarissa mich am Arm packte und mit weit aufgerissenen Augen gen Boden nickte.
»Sieh noch mal genau hin!« Wie hypnotisiert, zog sie sich das Bettlaken vom Kopf und sank vor der Steinbank auf die Knie.
»Da ist nichts«, beharrte ich. Aber Percy schien anderer Meinung zu sein. Wild mit dem Schwanz wedelnd setzte er sich neben Tante Clarissa, bellte spitz und stupste seine Nase immer wieder gegen mein Schienbein. Ganz so, als ob er sagen wollte: »Ich rieche was, was du nicht siehst!«
Zögernd wischte Tante Clarissa den Dreck beiseite. Noch ein paar Körnchen und noch ein paar. Dann zog sie ihre Brille aus ihrer Jackentasche, beugte sich vor und nickte. Als sie wieder zu mir aufsah, hatten ihre Augen so ein ganz gewisses Glitzern. Wie das von kleinen Kindern unter dem Weihnachtsbaum.
»Denk mal an das, worüber wir heute Abend gesprochen haben!« Tante Clarissa rückte ein Stück zur Seite. Worüber hatten wir denn gesprochen? König Artus, Merlin, die Ritter der Tafelrunde? Ich legte den Kopf zur Seite und betrachtete das Muster, das das Efeu auf dem gesprungenen Stein zurückgelassen hatte. Da plötzlich fiel der Groschen.
Blitzschnell kniete ich mich neben meine Tante und strich vorsichtig mit der Hand über die Platte. Ich sog scharf die Luft ein. »Das ist aufgemalt!«
Natürlich hatten Regen, Sonne und das Efeu in fast vierzig Jahren dafür gesorgt, dass die Zeichnung mehr zu erahnen als wirklich zu sehen war. Aber mit viel Fantasie erkannte ich, was Neal seinen Freunden als Wegweiser hinterlassen hatte. Behutsam fuhr ich mit dem Zeigefinger die Konturen ab.
»Excalibur im Felsbrocken!«, hauchte ich ehrfürchtig.
»Exakt, und hätten wir ihn nicht verscheucht, wäre unser Gespensterfreund jetzt schon mitsamt dem Gral über alle Berge«, flüsterte Tante Clarissa. »So sicher wie das Amen in der Kirche. Hier drunter liegt der Gral der Erkenntnis vergraben!«
»Und wie kommen wir an ihn ran?«
Noch während ich überlegte, hatte Tante Clarissa die Schaufel entdeckt. Sie lehnte an einer Säule. Entweder hatte Betty O’Donald oder das Gespenst sie hier vergessen.
»Geht mal ein paar Schritte zur Seite, ihr zwei!« Mit beiden Hände umfasste Tante Clarissa den Stiel und ließ die Schaufel mit voller Wucht auf die Steinplatte herunterdonnern. Das scheppernde Krachen hallte von den Wänden wider. Ich hätte meiner zierlichen Tante so viel Kraft gar nicht zugetraut. Immer wieder riss sie die Schaufel in die Höhe. Der Stein splitterte, teilte sich in große Scherben auf, die mit jedem Schlag kleiner wurden,