Eine Leiche zum Tee - Mord in der Bibliothek. Alexandra Fischer-Hunold

Eine Leiche zum Tee - Mord in der Bibliothek - Alexandra Fischer-Hunold


Скачать книгу
Clarissa winkte ab. »Oh, ein weites Feld. Er ist ein edler Kelch, aus dem Jesus angeblich beim letzten Abendmahl getrunken hat, und er soll ewige Jugend spenden. Viele haben ihn gesucht, keiner hat ihn gefunden. Aber ich schätze, dass dieser Neal seinetwegen auf die Idee mit dem Gral der Erkenntnis gekommen ist.«

      Tante Clarissa stand auf und umrundete das Bücherregal mit den ganzen Krimis, das als Raumteiler zwischen der Kaminecke und dem größeren Sitzbereich unseres Tearooms diente. Entschlossen schritt sie über die ausgetretenen Holzbohlen auf die kleine Tür zu, drehte den Schlüssel im Schloss und ging auf die Terrasse zu unserem Rosengarten hinaus. Durch das Regal hindurch konnte ich sehen, dass sie auf dem Fußabtreter stehen geblieben war. »Herrlich, diese klare Nachtluft!« Tief atmete sie ein. »Wisst ihr, was richtig schön wäre? … Wenn wir dafür sorgen könnten, dass keiner den Gral vor Olivia findet. Es scheint ihr so viel zu bedeuten. Auch wenn sie versucht, es runterzuspielen, indem sie sagt, es sei nur ein Spiel. Ich glaube, das ist geschwindelt.«

      Oh, oh, mir schwante Schreckliches.

      »Oder wenn wir zumindest verhindern könnten, dass sich ein anderer den Gral unter den Nagel reißt, bevor sie alle zusammen losziehen können. Wenn uns doch nur Merediths Buchhandlung nicht die Sicht auf die Kirche verstellen würde.«

      »Ich glaube, auch ohne die Buchhandlung könntest du von hier aus nichts sehen«, gab ich meinen Senf dazu. »Da wäre ja immer noch das Smuggler’s Rest im Weg. Vielleicht kannst du aus deinem Schlafzimmerfenster wenigstens die Lichter der Gespenster sehen.« (Kurze Zwischenanmerkung: Das Smuggler’s Rest ist unser Pub und liegt auf der rechten Seite der Harbour Road ein Stück bergauf.)

      »Gar keine schlechte Idee«, trällerte Tante Clarissa, schloss die Tür und schlang fröstelnd die Arme um sich. »Ich glaube, ich nehme jetzt ein schönes, entspannendes Bad und danach …« Langsam marschierte sie wieder auf uns zu, sodass ich genau sah, wie sie der Standuhr einen fragenden Blick zuwarf. Es war gerade mal neun Uhr. Ich wusste genau, was Tante Clarissa dachte: viel zu früh für jedes anständige Gespenst. Auf der anderen Seite hatte Dorothy Pax zu berichten gewusst, dass die Geister, die an der alten Kirche ihr Unwesen trieben, es mit ihren Arbeitszeiten nicht so genau nahmen. Und das hatte ich natürlich auch meiner Tante brühwarm erzählt.

      »… danach sehen wir weiter.« Damit schnappte Tante Clarissa sich ihre Ausgabe von Mord gehört dazu, zwinkerte uns verschwörerisch zu und stieg die Treppe zu unserer Wohnung hinauf.

      Willow schaute von ihrem Handy auf. Sie hatte die Hoffnung auf einen ausreichenden Netzempfang wohl immer noch nicht aufgegeben. »Sag mal, deine Tante hat aber nicht vor, auf Gespensterjagd zu gehen, oder?«

      Ich spitzte die Lippen und nickte. »Ich befürchte, so was in der Art wird es sein!«

image

      Es war gegen halb elf, als ich mich beruhigt zu Percy umdrehte, ihn in den Arm schloss und die Bettdecke bis ans Kinn hochzog. Alles war mucksmäuschenstill im Haus. Anscheinend waren meine Befürchtungen grundlos gewesen. Wie es aussah, hatte Tante Clarissa es sich entweder anders überlegt oder sie war über Olivias Krimi eingeschlafen. Oder, fiel mir gerade eine dritte ziemlich gute Möglichkeit ein, die Gespenster waren erst gar nicht aufgetaucht. Links neben mir fing Willow leise an, vor sich hin zu brabbeln. Das letzte Mal hatte ich ihr versprechen müssen, ganz genau zuzuhören, damit ich ihr am nächsten Tag berichten konnte, was sie im Schlaf so alles ausplauderte. Aber bei dem Genuschel hatte ich keine Chance.

      Percy und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Dorothy Pax’ Hunde bellten sich die Lunge aus dem Hals. Die Gespenster! Keine Minute später flog meine Zimmertür auf.

      »Amy? Anziehen. Los, beeilt euch!«

      »Was?«, flüsterte ich zurück und blinzelte gegen das Mondlicht an, das durch das Dachfenster auf mein Bett fiel.

      »Dank Dorothys lebender Alarmlage wissen wir, dass die Gespenster wieder da sind.«

      »Dein Ernst? Du willst jetzt zur alten Kirche rauf? Mitten in der Nacht!«

      »Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, wenn ich sie verscheuchen will«, rief Tante Clarissa kampfeslustig die Leiter zu meiner kuscheligen Schlafempore hoch. »Und jetzt mach voran!«

      »Was ist los?«, brummelte Willow verschlafen und rieb sich die Augen.

      »Tante Clarissa will zur Kirche. Jetzt!«

      »Jetzt?« Mit einem Schlag war Willow hellwach. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass mir ihre langen Locken ins Gesicht klatschten. »Ohne mich. Ich bleibe, wo ich bin!«

      Ich spürte förmlich, wie sich Tante Clarissas Röntgenblick durch meine Schlafempore bohrte und fragend auf mir ruhte. Ich konnte mir wirklich Schöneres vorstellen, als in einer Nacht- und Nebelaktion auf Geisterjagd zu gehen. Auf der anderen Seite … Flammende Neugierde stieg in mir auf wie glühende Lava.

      »Komme!«

      Mit einem Satz war ich aus dem Bett, hob den brummenden Percy hoch und setzte ihn in sein Körbchen, um ihn mit dem Flaschenzug in mein Zimmer abzuseilen.

      »Hey, Willow, kommst du doch mit?«, wunderte ich mich, weil sie die Bettdecke weggestrampelt hatte. Leise schabte das Seil über den dicken, schwarzen Deckenbalken, als ich das Körbchen mitsamt Percy vorsichtig daran herunterließ.

      »Was für eine Frage!«, schnaubte Willow und rollte sich aus dem Bett. »Meine beste Freundin sollte es eigentlich besser wissen. Ich gehe jetzt runter ins Little Treasures und stibitze mir ein Stückchen von deiner hammermäßigen Schokoladentarte«, verkündete sie, während sie hinter mir die Leiter hinabstieg. »Oder besser direkt zwei. In Stresssituationen wie diesen verbrennt mein Körper Unmengen an Zucker. Dann kuschele ich mich wieder in dein Bett und versuche zu vergessen, was ihr da draußen treibt. Und wenn ihr nicht bald wieder zurück seid, rufe ich die Polizei!«

      »Solange es nicht Sergeant Oaks ist«, lachte Tante Clarissa. »Und jetzt beeil dich, Amy! Sonst kommen wir noch zu spät.«

      Wie Einbrecher ganz in Schwarz gekleidet, stiegen wir in Tante Clarissas klapprigen VW-Käfer.

      »Bete, dass er anspringt!«, raunte Tante Clarissa, drückte mir einen Korb auf den Schoß und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Er sprang an. Sofort.

      Im Schritttempo glitten wir um die Ecke bei Merediths Buchhandlung, um auf der Harbour Road in dicken Nebelschwaden zu versinken, die vom Hafen aus den Berg in Richtung Wald hinaufwaberten. Wieso musste es bei unseren nächtlichen Ausflügen eigentlich immer nebelig sein? Fest schloss sich meine Hand um das kalte Metall der Taschenlampe.

      Ein bisschen hatte ich damit gerechnet, dass wir Dorothy und ihren Hunden begegnen würden. Aber diesmal war sie zu keinem nächtlichen Beruhigungsspaziergang aufgebrochen. Wir ließen das dunkle Smuggler’s Rest rechts von uns liegen. Erst am Ende der Harbour Road bogen wir auf einen unbefestigten Feldweg ein.

      Irgendwann schaltete Tante Clarissa die Scheinwerfer aus. Wie ein schlafender Schatten zeichnete sich der Wald mit den in den Himmel ragenden Kirchtürmen vor uns im Mondlicht ab. Tante Clarissa steuerte den Käfer hinter ein paar Sträucher und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor erstarb. Percy richtete sich im Fußraum auf und spähte gespannt aus dem Fenster. Ohne das geringste Geräusch zu machen, glitten wir aus dem Wagen und warteten schweigend, bis … mein Herz machte einen Satz … wir das tanzende Licht sahen.

      »Showtime.« Meine Tante nahm mir den Korb aus der Hand und wühlte darin herum. Als Erstes förderte sie ihr Opernglas zutage und dann …

      »Bettlaken?« Verwundert starrte ich sie an.

      »Du hast es erfasst!«, kicherte Tante Clarissa. »Wir wollen doch nicht unpassend gekleidet zu einer Gespensterparty erscheinen. Los, wirf es über.«

      Während ich mit dem Bettlaken kämpfte, zerrte Tante Clarissa noch einen Gegenstand aus dem Korb. Eine Sprühflasche mit einer Tröte?

      »Ein Bootsnebelhorn. Macht einen Heidenkrach«,


Скачать книгу