Heilung als schöpferischer Prozess. Klaus-Dieter Platsch
UM HEILUNG VERSTEHEN ZU KÖNNEN, ist es notwendig zu wissen, wie Schöpfung geschieht. Soweit das überhaupt möglich ist, denn den Urgrund von allem zu verstehen, übersteigt die Möglichkeiten unseres Verstandes. So bleiben wir in letzter Instanz – selbst mit den Erkenntnissen der seriösesten Wissenschaften – immer im Raum des Ungewissen.
Welchen Schöpfungsmythen wir auch immer anhängen – wissenschaftlich, philosophisch, theologisch, spirituell – und auch aus welchen Weltregionen und Kulturen diese stammen mögen: Allen ist eines gemeinsam, nämlich dass Schöpfung einen Urgrund haben muss. Urknall, Gott, Dao, die große Leere – was auch immer. Und was vor dem Uranfang ist, vor dem Urknall, vor Gott …, ist nicht zu wissen. So ist das große Gemeinsame aller Kosmologien im Grunde das Nichtwissen. Die tiefste Ursache ist und bleibt ein Geheimnis. Zu dieser Erkenntnis sind selbst große Denker der neueren Physik wie ALBERT EINSTEIN, MAX PLANCK oder WERNER HEISENBERG gekommen.
Wie der Quantenphysiker HANS-PETER DÜRR die Fragestellung der Schöpfung aus Sicht der Physik, des Wissens und des Nichtwissens, dargestellt hat, mag eine gute Basis schaffen, um ohne große physikalische Kenntnisse einige grundlegende Aspekte unseres Universums zu beleuchten.
EINE GESCHICHTE ÜBER DAS UNIVERSUM
VOR JAHREN HÖRTE ICH DEN QUANTENPHYSIKER und alternativen Nobelpreisträger HANS PETER DÜRR auf einer Tagung der Analytischen Psychologen in Lindau. Das Thema des Vortrags erinnere ich nicht mehr, aber er inspirierte mich so, dass ich den Physiker selbst zu einem Vortrag auf die Tagung »Medizin und Spiritualität« auf der Fraueninsel einlud. Wir sind von da an verbunden geblieben, bis er im Jahr 2014 starb.
DÜRR war ein Freund und Kollege von WERNER HEISENBERG, der schon früh, 1932, mit dem Nobelpreis für seine Arbeiten in der Quantenforschung geehrt wurde. DÜRR erzählte oft, wie sie im kontinuierlichen Austausch waren, verzwickte wissenschaftliche Fragen zu lösen versuchten. Sie taten das in einer dialogischen Weise – mehr die Fragen besprechend als Lösungen suchend. Oft ließen sie eine Frage einfach nur in sich köcheln, sprachen zwei Wochen nicht darüber, um dann »nachzuschauen«, was da inzwischen gekocht war. So tauchte immer wieder Neues, Unerwartetes, Noch-nicht-Gedachtes auf, das über die reine wissenschaftliche Analyse und Auswertung von Daten hinausging. Die Auffassung dieser außergewöhnlichen Wissenschaftler war, dass es notwendig sei, Teil ihrer eigenen Forschung zu sein.
Bei der Tagung auf der Fraueninsel im Chiemsee sprach DÜRR über das Thema »Naturwissenschaft und Spiritualität«. Es war eine Freude für uns alle, ihn in der Fülle seiner wissenschaftlichen und menschlichen Größe zu hören. Denn Wissenschaft war für ihn immer nur in Verbindung mit dem Menschlichen möglich.
Er entwickelte anhand eines Kreisdiagramms, wie Dualität und Nicht-Dualität als zwei Seiten der Welt miteinander existieren.3 So beschrieb er, wie die klassische Wissenschaft Subjekt und Objekt voneinander trenne und den Urknall und das Universum aus der Außenbetrachtung erforsche und definiere. Er sagte: »Universum hat das Ganze im Bild. Das Ganze ist das, dem kein Teil fehlt.« Und schloss daraus: »Das heißt, ich gehe als Naturwissenschaftler gerade von dem weg, wo Sie eigentlich hinwollen … Ich gehe genau in die umgekehrte Richtung.«
In dieser Weltsicht fiele das klassische Universum in Trümmer, so DÜRR. »Das klassische Universum wird auf einmal etwas total anderes, es wird ein holistischer Kosmos … der Begriff Kosmos als etwas, das schon Struktur hat, aber überhaupt nicht an das Materielle erinnert. Er drückt sich als Beziehungsstruktur aus.«
In der holistischen Betrachtung hebe sich die Dualität in gewisser Weise auf, denn alles sei mit allem verbunden. Und er fuhr fort mit einer mich tief berührenden Wahrhaftigkeit: »Ich nenne es A-Dualität als Konstrukt, weil ich es als Wissenschaftler konstruiert habe. Dabei bin ich als Wissenschaftler noch außerhalb, aber Sie alle und alle anderen sind schon darin enthalten. Nur ich bin draußen.« Und natürlich wusste er, dass auch er Teil davon ist. Und dass alle anderen, von denen er sprach, zwar darin sind, es vom Verstand her nachvollziehen können, aber deshalb noch lange nicht ein lebendiges Bewusstsein davon haben. Und gleichzeitig war zu spüren, wie groß das Ringen war, es nicht nur zu wissen.
Ist es nicht einfach auch Gnade, im Bewusstsein »ganz« darin zu sein – so wie ANITA MOORJANI dies erfahren durfte?
Am Ende seines Vortrags zog er ein rotes Wollknäuel aus seiner Jackettasche. Er hatte immer eines dabei, wie er später erzählte. Er warf es in die Luft und fing es wieder auf. »Das ist die Welt – die Welt ist ein Wollknäuel. Ich kann es in die Luft werfen und es fällt nicht auseinander, sondern bleibt zusammen.« Dann begann er, den Faden vom Knäuel abzurollen, und sagte: »So macht es die Wissenschaft und sagt: ›Die Welt ist kein Knäul, sie ist ein Faden.‹« Aber ist sie das? Oder nur, wenn wir sie in ihre Bestandteile zerlegen? Ist das dann noch die Welt? Und am Ende fragte er noch: »Und wissen Sie, was das Knäuel zusammenhält? Es sind die kleinen Wollfusseln. In der Welt ist es die Liebe, die wie die Fusseln alles zusammenhält.«
DIE VERTIKALE BEZIEHUNG
AUF EINEN PUNKT GEBRACHT möchte ich sagen: Schöpfung geschieht aus dem Nichts, dem nicht wissbaren Geheimnis hinter allem. Im alten chinesischen Weisheitstext Dao De Jing wird der Schöpfungsmythos auf eine sehr kurze und klare Formel reduziert:
»Dao erzeugt Eins,
Eins erzeugt Zwei,
Zwei erzeugt Drei,
Drei erzeugt alle Dinge.«
Dao De Jing, Kapitel 42
DAO STEHT FÜR DAS GEHEIMNIS DES URSPRUNGS, der nicht benennbar ist – jenseits jeder Verstandesmöglichkeit. Der Name »Dao« ist wie jede andere derartige Bezeichnung, wie zum Beispiel Gott, Leere, reines Bewusstsein, Nirwana, quasi eine Metapher für Nichts – für das, was jenseits des Seienden, auch des Unsichtbaren, ist. So wie Wissenschaftler nichts anderes annehmen, als dass der Urknall als Beginn unserer universellen Existenz aus dem Nichts heraus entstanden sei.
Der Urknall ist die gängige wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung unseres Universums. Er soll vor etwa 13,5 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Ob der Urknall tatsächlich der Anfang aller Anfänge war, darüber gehen die Meinungen in der Wissenschaft auseinander. In jedem Fall scheint er der Ausgangspunkt unseres Universums zu sein. Vom diesem kaum vorstellbaren kosmischen Ereignis ausgehend hat sich unser Universum immer mehr entfaltet und expandiert auch heute noch immer. Forscher nehmen an, dass sich die Expansion des Universums eines Tages umkehren und sich wieder involutiv zusammenziehen wird, bis es wie in einem einzigen kosmischen schwarzen Loch vollständig absorbiert wird und verschwindet. Die ganze Materie des Universums wird in ein Nichts aufgesaugt und zu einem neuen Nullpunkt unvorstellbarer Energie verdichtet. Es wird spekuliert, dass dies der Beginn eines nächsten Urknalls und damit eines neuen Universums sein könnte. Wie oft das vielleicht schon geschehen ist oder wie viele parallele Universen auf diese Weise existieren, entzieht sich unserer Kenntnis und wäre reine Spekulation.
Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die davon ausgehen, dass der Urknall immer jetzt stattfindet – dass also die Zeit der Evolution über 13,5 Milliarden Jahre nur der Art und Weise entspricht, wie der dual funktionierende Verstand darauf schauen kann. Das heißt, alles was je war, ist und sein wird, ist in einer gewissen Weise »gleichzeitig« (und dies ist auch nur eine Umschreibung, die es dem Verstand ermöglichen soll, das zu verstehen). Gleichzeitigkeit bedeutet, ein anderes Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erlangen. Mit den Worten ALBERT EINSTEINS: »Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist.«
Das deckt sich auch mit Erfahrungsräumen, die die Verstandesebene transzendieren, zum Beispiel in stiller, gegenstandsloser Meditation und ermöglicht es auch, bestimmte Phänomene zu erklären, auf die wir transgenerational oder kollektiv Zugriff haben und die unser Leben