Der Meister und der Mörder. Margarete von Schwarzkopf

Der Meister und der Mörder - Margarete von Schwarzkopf


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doch dazu kam er nicht mehr.

      Als Ernestine Wiegand das Haus im hannoverschen Vorort Kirchrode betrat, wunderte sie sich über die absolute Stille. Sie hatte sich heute ausnahmsweise verspätet, da ein Bus ausgefallen war. Hoffentlich würde ihr strenger Arbeitgeber nicht allzu pikiert sein. Ernestine hatte sich ihre Entschuldigung zurechtgelegt, als ihr auffiel, dass nicht wie üblich gedämpfte klassische Musik aus dem alten Radio im Arbeitszimmer erklang. Vielleicht war Professor Strate ja zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen und hatte ihre Verspätung deshalb gar nicht bemerkt. Doch in der Garderobe hing noch sein heller Regenmantel, den er stets um diese Jahreszeit trug, wenn er das Haus verließ. In der Küche entdeckte sie eine benutzte Kaffeetasse und in der Spüle einen Teller. Ernestine beschloss, erst einmal im oberen Stock Ordnung zu machen.

      In seinem Schlafzimmer, das sie jeden Tag aufräumte, herrschte das übliche Chaos. Sein hellblauer Schlafanzug in der einen Ecke, sein karierter Morgenmantel in der anderen, auf dem Nachttisch mehrere Bücher über Kunstepochen und Künstlerbiografien, Magazine und Zeitungen, dazwischen Schachteln mit seinen Pillen gegen Bluthochdruck und Erkältung.

      Strate war offenbar schon längst aufgestanden. Das Handtuch in seinem Badezimmer, das er achtlos auf die schwarz-weißen Kacheln geworfen hatte, war schon fast trocken. Seufzend ging Ernestine die breite Holztreppe wieder hinunter. Im Treppenhaus hingen Stiche und Lithografien diverser Künstler, die ihr aber alle nichts sagten. Und sie auch nicht interessierten. Und erst einmal all diese Ölschinken im unteren Stock. Zum Teil düster und erschreckend – mit wenigen Ausnahmen. Sie mochte diesen Italiener mit dem seltsamen Namen, der so hübsche Bäume gemalt hatte und der demnächst in einem Museum in Braunschweig ausgestellt werden sollte. Wahrscheinlich saß der Professor schon an seinem Schreibtisch. Jeden Tag verbrachte er dort mindestens sechs Stunden. In seinem Heiligtum, wie er es zwar ironisch nannte, aber letztlich ernst meinte.

      Zögernd klopfte sie an die Tür des Arbeitszimmers. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte hindurch. Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Deshalb schob sie sich vorsichtig ins Zimmer und erstarrte. Klas Strate lag neben seinem Schreibtisch reglos auf dem Boden. Seine Augen blickten ins Leere. Um ihn herum lagen zahlreiche lose Blätter. Ernestines entsetzter Schrei zerriss die unnatürliche Stille des Hauses.

      Ein unverhofftes Wiedersehen

      Ein kühler Wind strich über die Grabsteine. Ich stand im Schatten eines der alten Bäume auf dem Engesohder Friedhof in Hannover und fror. Nicht nur wegen des für Anfang Mai eher unfreundlichen Wetters, sondern weil ich um den Mann trauerte, der in diesen Minuten auf dem ehrwürdigen Friedhof beigesetzt wurde. Die Trauerfeier in der Kapelle hatte ich versäumt, da sich mein Zug von Köln nach Hannover aufgrund von »Personen im Gleis« um eine Stunde verspätet hatte.

      Ich betrachtete die vielen Menschen, die sich zum letzten Geleit für Professor Klas Strate versammelt hatten. Als ich die Nachricht vom Tod meines einstigen Lehrers an der Kölner Universität erhielt, saß ich mit meiner Mutter in ihrer kleinen Küche mit Blick auf ihren winzigen Garten, in dem schüchtern die ersten Krokusse ihre Köpfe durch die Erde schoben, und trank mit ihr einen Kaffee. Immer um elf Uhr vormittags. Eine alte Tradition. Meine Mutter, trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch immer recht munter und vor allem redefreudig, wollte mir gerade eine Anekdote aus der Nachbarschaft erzählen, als mein Handy klingelte. Obwohl meine Mutter die Stirn runzelte, nahm ich das Gespräch an. Eine sich überschlagende Stimme rief: »Anna? Bist du es?« Dann, ohne meine Antwort abzuwarten: »Klas Strate ist tot!«

      Mit ein wenig Mühe erkannte ich die verzerrt klingende Stimme. Es war meine alte Freundin und frühere Kommilitonin Christine Windstetten, die mit mir bei Professor Strate in Köln studiert hatte. Ihren Magister machte sie dann später in Berlin, während ich in München mein Examen ablegte. Aber wir waren beide vier Semester bei dem charismatischen Strate gewesen, dessen tiefe, warme Stimme die Biografien und Besonderheiten der alten Meister so lebendig beschwor und der zudem ein fairer Prüfer und stets gesprächsbereiter Dozent gewesen war. Alle seine Studenten verehrten ihn, vor allem die weiblichen, die für seine tiefbraunen Augen und seine grauen Haare schwärmten, die ihm ein wenig das Aussehen von Richard Gere verliehen. Nach seiner Emeritierung war Strate in seine Geburtsstadt Hannover zurückgezogen.

      Ich hatte den Kontakt zu ihm lange Zeit weitgehend verloren, obwohl auch ich in Hannover lebte und von dort aus umherfuhr, um Bilder zu begutachten oder Ausstellungskataloge zu planen, und dabei immer wieder Abenteuer erlebte. Strate war vor gut zwanzig Jahren emeritiert worden, hatte seitdem vor allem als Experte für verschiedene Museen zum Thema »Original und Fälschung« gearbeitet und seine Sammlung erweitert, die er von seinem Vater geerbt hatte, der sie wiederum von seinem Vater übernommen hatte. Der alte Heinrich Strate galt als einer der größten Privatsammler im Land, der dafür berüchtigt war, bereits mehreren namhaften Museen seine Sammlung versprochen zu haben. Aber er löste diese Versprechen nie ein, und sowohl das Landesmuseum in Hannover als auch das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum oder die Berliner Nationalgalerie hatten das Nachsehen.

      Als der alte Strate 1999 mit fast neunzig Jahren starb, hofften einige der Museen, sie seien in seinem Nachlass bedacht worden. Aber er verfügte in seinem Testament, dass sein einziger Sohn Klas, damals auch schon sechzig Jahre alt, die Bilder hüten und im eigenen Haus bewahren sollte. Man munkelte, dass die Sammlung einen Wert von vielen Millionen besaß, selbst wenn nicht alle Werke von bester Qualität waren, sondern teils von weniger namhaften Künstlern oder aus den Werkstätten berühmter Meister stammten. Klas Strate ließ wie sein Vater niemanden an seine Sammlung heran. Die meisten Bilder, hatte ich gehört, hingen in für Besucher nicht zugänglichen Räumen seines großen alten Hauses oder lagerten im Keller.

      Ich hatte ihm Anfang des Jahres geschrieben und ihn gebeten, für die Ausstellung in Braunschweig, für die ich den Katalog erarbeiten sollte, doch einige seiner Bilder als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Seine Antwort war kurz und eher unpersönlich gewesen. Er sei bereit, vier Werke auszuleihen. »Falls dazu detailliertere Angaben benötigt werden, so bitte ich um Anruf auf meinem Festnetz.«

      Ohne weiteren Kommentar sandte er mir die Titel der Bilder und die Namen der Künstler. Ich durfte ihn immerhin kurz besuchen, aber auch da blieb er zurückhaltend, was mich erstaunte, da ich eine seiner besseren Studentinnen gewesen war. Wir sahen uns die Bilder an, die für die Ausstellung in Frage kamen, suchten vier aus, die mir gut gefielen, und danach hörte ich nichts mehr von ihm. Alle formalen Fragen erledigte der Kurator der geplanten Ausstellung, und ich widmete mich anderen Dingen.

      Im März starb meine Patentante Amelie in Köln, eine wundervolle Frau, die trotz der vielen Jahre, die sie an ihren Rollstuhl gefesselt war, nichts von ihrer Lebensfreude eingebüßt hatte. Ich erbte ihr Haus mit allen Beständen, darunter zahlreiche Bilder und eine Bibliothek mit zum Teil recht alten Büchern. Noch immer arbeitete ich an einer Bestandsaufnahme, fuhr jeden Monat für einige Tage nach Köln, quartierte mich bei meiner Mutter ein und schritt durch das Haus meiner Patentante im Kölner Vorort Marienburg wie durch ein Museum. Ihre wertvollsten Bilder hatte Amelie noch vor ihrem Tod mehreren Museen geschenkt, aber immerhin hingen noch recht ansehnliche Werke aus dem 17. Jahrhundert in ihrem Wohnzimmer. Das Haus würde ich irgendwann verkaufen.

      Ich wollte von all den Bildern nur ein Madonnenbild aus dem späten 16. Jahrhundert behalten. Dieses Werk eines anonymen Malers hing jetzt in meiner Wohnung in Hannover. Ein paar Bilder hatte ich Richard Bernhard zum Verkauf überlassen – als wir noch in unserer seltsamen On-Off-Beziehung miteinander verbunden gewesen waren. Die aber brach endgültig im vergangenen September auseinander, als ich entdeckte, dass er während der gesamten Zeit unserer Liaison mit einer alten Freundin in Berlin engen Kontakt gehabt hatte. Alle seine Beteuerungen, das sei längst keine Affäre mehr gewesen, sondern nur noch eine Art Freundschaft, zündeten bei mir nicht. Tief enttäuscht zog ich mich zurück und löschte sogar in einem Anfall von Wut seine Handynummer und seine Mailadresse. Das half nicht viel, da ich beide längst auswendig kannte.

      Richard Bernhard, Antiquitätenhändler aus Hannover und gelegentlicher Mitarbeiter der Fernsehsendung »Gutes für Geld«, bei der er als Experte für die Einschätzung von Bildern, Fotografien und alten Kunstobjekten mitwirkte, kannte ich, seit wir gemeinsam ein Abenteuer im Brester Moor in der Nähe von Stade


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