Der Meister und der Mörder. Margarete von Schwarzkopf
zwischen Richard und mir eine Art von Liebesbeziehung entwickelt, die aber immer auf Messers Schneide stand. Ich war mir seiner nie sicher gewesen – wohl mit Recht, wie ich allzu spät entdeckte. Mein Kummer wurde nur noch von meinem Zorn übertroffen.
Mein Gemütszustand seit dem vergangenen Herbst war deshalb eher lau. Weihnachten verbrachte ich mit meiner Mutter in Köln, den Januar auf Mallorca bei meinem Vater, der sich inzwischen von seiner sehr viel jüngeren Frau getrennt hatte und nun alleine in seinem hübschen Haus bei Alcúdia wohnte. Und ich stürzte mich in die Arbeit. Der Katalog für die Ausstellung in Braunschweig im kommenden Jahr sollte bis September fertig sein. Und es gab noch viel zu tun. Zwischendurch überlegte ich, ob ich meine Zelte in Hannover ganz abbrechen und in das Haus meiner Tante ziehen sollte. Aber ich gab diesen Gedanken rasch wieder auf. Das Haus war für mich allein viel zu groß. Insgesamt sieben Zimmer und drei Bäder, die alle renoviert werden mussten, und dazu ein Garten von fast eintausend Quadratmetern.
Die etwas monotone Stimme des Pfarrers riss mich aus meinen Gedanken. Er stimmte das Vaterunser an, und mehrere hundert Trauergäste fielen ein. Sehr bewegend. Mir schossen die Tränen in die Augen. Die letzte Beerdigung, an der ich teilgenommen hatte, war die meiner geliebten Patentante gewesen. Ein wunderschönes katholisches Requiem in ihrer Kölner Pfarrkirche und eine sehr stimmungsvolle Beerdigung auf dem Melaten-Friedhof.
Auch Strates Begräbnis war durchaus würdevoll. Soviel ich wusste, hatte er nur sehr entfernte Verwandte gehabt. Seine Frau war nach kurzer Ehe gestorben, Kinder hatten sie nicht, und das gab ihm wohl den nötigen Freiraum, sein Geld und seine Anstrengungen weiterhin der Kunst zu widmen. Von Christine Windstetten, die ich seltsamerweise nicht unter den Gästen erblicken konnte, hatte ich erfahren, dass hinterher in einem Restaurant am Maschsee ein Empfang stattfinden sollte. Ich fühlte mich eingeladen und war mir sicher, dass zu Hause die Todesanzeige auf mich wartete. Ich war seit einer Woche nicht mehr in meiner Wohnung gewesen und nun direkt vom Bahnhof hierhergeeilt.
Die Gäste schoben sich auf das Grab zu, um Blumen oder Erde auf den Sarg zu werfen. Professor Klas Strate war ein prominenter Bürger dieser Stadt gewesen, ich sah unter anderem den Oberbürgermeister und einige Museumsleiter. Und dann entdeckte ich ihn: Richard Bernhard, der sich aus der Menge löste und eine Schaufel Erde auf den Sarg warf. Direkt hinter ihm stand Kommissar Hans Schumann, den ich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auch ihm war ich erstmals vor fünf Jahren im Brester Moor begegnet, ein liebenswerter, höflicher Polizist, der so gar nicht den Klischees aus Fernsehfilmen oder Kriminalromanen entsprach. Solide, vielleicht manchmal ein wenig zu bedächtig, aber durchaus kompetent. Er rauchte nicht, trank aber recht gerne in geselliger Runde und liebte Jazz und Blues.
Ich freute mich, ihn zu sehen. Sein Haar war inzwischen vollends ergraut, was ihm ein würdiges Aussehen verlieh. Er ging ein wenig gebeugt und trat hinter Richard, der sich überhaupt nicht verändert hatte, an die Grabstätte. Schumanns Gesicht wirkte sehr blass und ernst. Zuletzt hatte ich ihn bei einem hastigen Mittagessen gesehen, das wir lange geplant hatten. Kaum waren wir beim Nachtisch angekommen, klingelte sein Handy. Er verabschiedete sich für seine Verhältnisse fast schon unhöflich kurz und eilte davon. Danach nur gelegentliche SMS, Absichtserklärungen, gescheiterte Verabredungen, abgebrochene Telefonate, bis ich ihm erklärte, dies habe alles keinen Sinn. Er solle sich erst dann wieder bei mir melden, wenn er wirklich Zeit hätte. Nun, das letzte Telefonat lag ein Jahr zurück. Meinen fünfzigsten Geburtstag feierte ich im vergangenen Jahr ohne meine alten Kampfgefährten Hans Schumann und Richard Bernhard im Kreis meiner Familie und einiger alter Freundinnen samt deren Ehemännern in meinem frisch geerbten Haus in Köln. Schumann hatte mir immerhin per SMS gratuliert.
Schumann und Richard hatten mich beide gesichtet. Wenn ich mich nicht irrte, trieb es beiden Männern, die sich früher nie besonders grün gewesen waren, aber nun wie gute Bekannte wirkten, die Röte ins Gesicht. Schumann hob grüßend die rechte Hand und lächelte mich an, Richard dagegen warf mir einen eher finsteren Blick zu. Als ich wenig später ans Grab trat, war er bereits gegangen. Nachdem ich eine Rose auf den von Erde und Blumen schon fast gänzlich bedeckten Sarg geworfen hatte, strebte ich dem Ausgang des Friedhofs zu. Schumann wartete zwischen zwei marmornen Grabsteinen auf mich.
»Wie schön, dich endlich wiederzusehen, Anna«, rief er und küsste mich flüchtig auf beide Wangen. »Wie ist es dir ergangen? Ich habe oft an dich gedacht, aber irgendwie hat sich meine Arbeit in Hannover als zeitraubender und mühevoller erwiesen, als ich je geahnt hätte.«
Kürzlich war ein Porträt von ihm in der Zeitung veröffentlicht worden, in dem vor allem auf seine Erfolge bei der Aushebung eines Kinderpornorings und der Zerschlagung des norddeutschen Ablegers eines Drogenkartells hingewiesen wurde. Der gute Hans Schumann, der auf den ersten Blick etwas schüchtern und fast unbeholfen wirkte, hatte offenbar brillante Arbeit geleistet. Ich freute mich für ihn, war aber ein wenig melancholisch, da ich keinen Platz mehr in seinem Leben zu haben schien. Auch wenn ich meinen Abenteuern im Brester Moor, im Ith und im Kloster Warnstedt am Steinhuder Meer und in Dublin nicht wirklich hinterhertrauerte, so vermisste ich doch hie und da die damit verbundene Aufregung. Und meine Treffen mit Schumann, tja, und auch mit Richard. Derzeit verlief bei mir alles in recht durchschnittlichen Bahnen.
»Was treibst du denn bei dieser Beerdigung?«, sagte ich, ohne auf seine Frage nach meinem Wohlbefinden einzugehen.
Schumann hüstelte, bei ihm immer ein Zeichen von Verlegenheit. Wenigstens das hatte sich nicht verändert. Er blickte sich vorsichtig um. Da war er wieder, der alte Schumann, immer auf der Hut, ein wenig nervös und diskret bis zum Abwinken.
»Du kanntest ja Strate«, setzte er dann an. »Vor langer Zeit hast du mir erzählt, dass du bei ihm Kunstgeschichte studiert hast.«
Ich hatte längst vergessen, dass ich ihm davon berichtet hatte. Aber Schumann besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Nun, und ich habe zwei- oder dreimal Vorträge von ihm über unbekannte Künstler der Renaissance gehört«, fuhr er fort. »Die waren hervorragend. Obwohl ich von Kunst keine Ahnung habe. Dafür war meine Ex-Frau Dagmar zuständig. Aber er konnte toll und spannend erzählen. Ich erinnere mich an eine Geschichte von der Ermordung eines Palastwärters der Medici in Florenz. Er war vor einem kostbaren Bild niedergestochen worden, das dann gestohlen wurde, irgendwann um 1450 herum. Der oder die Täter wurden nie gefasst, und das Bild ist wohl auch nie wiederaufgetaucht. Es war irgendetwas mit einem Drachen.« Er lachte. »Ein klassischer Altfall. Die Menschen ändern sich wohl nie. Als ich von Strates Tod in der Zeitung las, habe ich spontan beschlossen, zur Beerdigung zu kommen und ihm meine Reverenz zu erweisen.«
Schumann mochte vieles sein, aber eines ganz gewiss nicht: ein guter Lügner. Deshalb schüttelte ich den Kopf und sagte: »Lass uns zusammen zum Empfang gehen. Dann kannst du mir die wahren Gründe für dein Kommen erzählen.«
Verwirrt sah er mich an. Dann lächelte er. »Meine liebe Miss Marple! Wie habe ich dich vermisst. Ja, ich komme gerne mit.«
Mir wurde warm ums Herz. Schumanns liebevolles Lächeln heiterte mich auf.
»Was ist eigentlich mit unserem Freund Richard?«, wagte ich zu fragen, als wir auf den Ausgang des Friedhofs zusteuerten.
Schumann stockte einen Moment, dann räusperte er sich. »Ich weiß, dass ihr euch nicht mehr seht. Das hat Richard mir vor einigen Monaten erzählt, als ich in seinem Geschäft nach einem Geschenk für meine Ex gesucht habe. Aber dass du gar nicht mehr weißt, was er macht und wie es ihm geht, überrascht mich doch. Er hat vor einem halben Jahr überlegt, ob er seinen Laden aufgeben soll. Aber jetzt will er ihn zumindest noch bis zur nächsten Mieterhöhung in drei Jahren behalten. Er arbeitet noch immer als Gutachter für diese Fernsehsendung, reist aber wohl ziemlich viel umher, um interessante Objekte für potenzielle Käufer zu finden, die ihm Sonderaufträge erteilen. Seine Kunstsprechstunde, die er vor einigen Jahren eingeführt hat, ist recht erfolgreich. Er berät, wie er mir sagte, an die zwanzig Leute pro Woche, die ihm ihre Dachboden- und Kellerfunde oder Erbstücke präsentieren. Also, Richard scheint gut aufgestellt zu sein. Aber vielleicht erzählt er dir das alles beim Empfang ja selbst.«
Als wir in dem Restaurant ankamen, wimmelte es von Menschen, darunter auch Fotografen und Presseleute. Am Eingang drückte mir eine adrett gekleidete Kellnerin