Missbrauch mit dem Missbrauch. Rainer Bertram
hält. Für mich ist es nebensächlich, ob die Kinder ihres oder mein Handy für die Fotos benutzt haben. Levin kommt die Treppe rauf. Seine Mama schaut ihn an und fragt vorwurfsvoll, ob er und Hanni die Fotos gemacht haben. Er nickt und lächelt entschuldigend. Wir erklären ihm, dass man solche Fotos nicht macht. Dass man andere Menschen so nicht fotografieren soll. Sohnemann „haut“ erst mal ab nach unten. Meine Partnerin erklärt mir, dass die Kinder sich in Pose gestellt hätten. Sie hält mir ein Bild entgegen. Nachdem ich gestern Abend so viel laienhaftes Geschwafel über das Thema sexuelle Entwicklung „ertragen“ musste, muss ich mir jetzt nicht auch noch Bilder, welche die Kinder im Spiel gemacht haben, ansehen. Ich antworte ihr:
„Die Kinder haben gespielt, wie wir das früher auch gemacht haben. Nur haben sie ein neues Medium entdeckt. Das müssen wir mit den Kindern besprechen“.
Nicht dass ich Experte in Sachen Sexualerziehung bin, nein ich ertrage dieses pseudowissenschaftliche Diskutieren, das uns Lehrern manchmal so eigen ist, nicht. Wir sind nicht allwissend, alles könnend und vor allem sind wir nicht alles besserwissend. Es tut doch nichts zur Sache, ob ich die Bilder anschaue. Kinder bewegen sich völlig unkompliziert und achten nicht darauf, wie sie aussehen. Sich nackt zu fotografieren ist das, worüber wir mit den Kindern reden müssen, nicht die Fotos selbst. Und weil sie mir sagt, dass Bilder von der kleinen Hanni drauf sind, möchte ich die Fotos schon gar nicht sehen. Das sage ich ihr auch, denn ich habe nicht die geringste Lust mit deren Mutter über die Bilder ihrer Tochter zu diskutieren. Nach einer solchen von Esoterik, Traum- und Zukunftsdeuterei erfüllten Diskussion über Inhalt der Fotos, postnatalen Entwicklungsproblemen und vielen – vielen Beispielen und Erinnerungen aus ihren eigenen und schulisch motivierten Erfahrungen wäre ich laut schreiend in die Ostsee gelaufen.
„Bitte lösch die Fotos, ich muss die nicht sehen, wir müssen mit den Kindern reden und sie davon überzeugen, so etwas zu unterlassen.“
Sie löscht die Bilder, geht kommentarlos nach unten zu Doris. Später wird sie erzählen lassen, dass sie die Fotos gelöscht habe, weil sie so geschockt war. Und erst in der Nacht auf dem Revier wird mir einfallen, dass die zweite Behauptung die Fotos vom Handy ins Netz gestellt zu haben falsch ist. Mein Rahmenvertrag (ein Überbleibsel meiner Dienstzeit) lässt das Versenden von E-Mails oder Fotos ins Netz schlicht und einfach nicht zu. Und meine Partnerin weiß das genau, denn wir haben den gleichen Vertrag. Warum also behauptet sie so etwas? Heute denke ich, dass dort beim Betrachten der Bilder die ungeheure und einmalige Chance erkannt wurde, sich und unseren Sohn so von mir zu trennen, dass sie allein für ihn sorgen kann und überall als die alleinerziehende Rektorin bewundert wird, dass sie damit ihren inneren Konflikt zu unserer Verbindung schneller als geplant lösen kann. Ihr ist beim Betrachten der Bilder spontan eingefallen, welche Möglichkeiten sich ihr damit eröffnen, dass ihr damit ein besseres Szenario als das „geplante“ geboten wird. Den Kritikern dieser Schluss-folgerung halte ich entgegen, dass der von mir vermutete innere Konflikt als ein möglicher Motor für viele der noch folgenden irrational scheinenden Aktivitäten gelten kann. In den nächsten Monaten werden aber noch andere Ursachen deutlich werden. Als ich zu den beiden Frauen nach unten komme, habe ich das Gefühl, dass wieder Vernunft eingekehrt ist. Wir verständigen uns darauf, die Kinder zu beobachten, wollen das Ganze aber nicht über-bewerten. Die beiden Frauen nehmen meinen Vorschlag an, die Kinder getrennt zu duschen.
Meine Tochter ruft an. Ich erkläre ihr, dass die beiden Kinder gerade Doktorspiele gespielt und auch noch Fotos gemacht haben und wir deshalb ein wenig angespannt seien. Dabei denke ich kurz noch einmal darüber nach, dass beide Frauen hoch gegangen sind und die Kinder doch beim Spielen gesehen haben. Vor allem die Freundin war zwischenzeitlich oben. Warum also diese Aufregung? Beide hätten doch das tun können, was alle Eltern in solchem Fall mit ihren Kindern tun, nämlich sprechen und nicht schimpfen. Beide Frauen unterrichten in der Grundschule. Beide haben Erfahrung mit diesem Thema. Warum sie so ein riesiges Problem daraus machen, ist mir ehrlich gesagt, nicht ganz verständlich. Meine Tochter möchte, dass ich Doris frage, ob sie zur Taufe ihres Sohnes kommen wolle. Und sie will wissen, ob die Absage von Svenja Schiffer, der Schwester meiner Partnerin, endgültig sei. Darüber vergesse ich den Gedanken zum Auffinden der Kinder und das Herstellen der Bilder. Heute frage ich mich, warum Svenja, die mir gegenüber so viel Wert darauflegt, gegen den Willen ihrer Mutter Kontakt zu meiner Tochter aufzubauen, so plötzlich absagt. Und ich frage mich natürlich auch, wieso meine Partnerin mir das sagt, nachdem sie mit ihrer Mutter telefoniert. Was war da bereits geplant? Das Geschenk der Fotos war doch nicht vorhersehbar. Hat es im Vorfeld des Urlaubs bereits Absprachen gegeben, die Einladung meiner Tochter schon nicht mehr anzunehmen? Meine Partnerin hatte mir ja schon länger gesagt, dass sie nicht zur Taufe meines Enkels mitgehen will und sie hatte den Wunsch meiner Tochter Taufpatin für meinen Enkel zu sein, deutlich abgelehnt. Um das Taufgeschenk habe ich mich bereits vor dem Urlaub allein kümmern müssen. Trotz allen wollen wir zum Strand fahren. Die Freundin fragt mich, ob Christel in der Vergangenheit besondere Erlebnisse hatte, ob sie vielleicht vergewaltigt oder missbraucht wurde. Sie ist der Meinung, dass die Reaktion nicht normal sei. Am Strand angekommen, nimmt meine Partnerin ihr Handy. Sie will nur etwas aus dem Auto holen. Ich sage Doris, dass sie jetzt bestimmt wieder eine Freundin oder Mama anruft. Doris fragt noch einmal eindringlich, ob es da irgendetwas bei meiner Partnerin gäbe. Ich spreche die Erfahrungen meiner Partnerin mit ihrem früheren Freund an. Der hatte nach ihren Erzählungen wohl einige Pornofilme und hunderte von Pornobildern auf der Festplatte. Deshalb hatte sie sich wohl von ihm getrennt. Ich will Christel nochmals darauf ansprechen, da mir ihre Reaktion zu heftig scheint und sage das auch. Die Freundin vermutet eine besondere Einstellung von Christel zur Sexualität. Aus meiner Betroffenheit und Verärgerung über diese „Überreaktion“ heraus erzähle ich ihr, dass sie schon eine etwas merkwürdige Art des Umgangs mit dem Thema Sex hat. Bei Besuchen der Mama sei das Thema Sex absolutes Tabu. Es wurden jedes Mal, wenn die Mutter kam, die Laken gewechselt. Es wäre peinlich, wenn die Mutter bei der Kontrolle der Wäsche in unserem Schlafzimmer eventuelle Spuren gesehen hätte. Ich vermute in einem negativen Ereignis in der Vergangenheit den Schlüssel, um die fasst pathologisch zu nennender Abhängigkeit der Tochter von der Mutter zu erklären? Ich will zu meiner Partnerin ans Auto gehen, aber Doris bittet mich, ihr noch etwas Zeit zu geben. Nach einer Weile gehe ich doch. Christel steht am Auto und
telefoniert. Sie ruft mir entgegen, dass sie mit einer Freundin, telefoniere, die ihr rät „beobachten und das Ganze nicht überbewerten“. Ich bin sauer und sage ihr das auch. „Eigentlich bin ich der Gesprächspartner, mit dem du in Ruhe über unseren Sohn sprechen solltest und nicht schon wieder mit einer Freundin“. Abrupt drehe ich um und gehe zum Strand zurück. Diese Freundin war auch diejenige, die damals die Pornos auf der Festplatte bei dem früheren Freund gesucht hatte. Sie ist Grundschullehrerin und hat wie wir Drei studiert. Ich hätte wirklich erwartet, dass wir in der Lage sind, so ein „Problem“ wie hunderttausend andere Eltern mit Verstand und nicht mit einer solchen Panikreaktion zu lösen. Heute weiß ich, dass sie nicht mit dieser Freundin, sondern mit ihrer Schwester telefoniert hat. Als meine Partnerin zurückkommt, wird noch einmal das Thema angesprochen. Wir sollen verstärkt beobachten, aber nicht überbewerten, hätte die Freundin ihr geraten. Was für eine weltbewegende Neuigkeit, denke ich im Stillen. Und ganz tief im Inneren frage ich mich, ob ich die Beiden zwei Jahre zuvor als Kolleginnen falsch beurteilt habe, als ich Ihnen Übersicht und besonnenes Handeln unter Stress in ihre Beurteilung geschrieben habe. Völlig unbeeindruckt von unseren „wichtigen Problemen“ haben die beiden Kinder zu dieser Zeit bereits am Strand mit Tang und Seesternen ganz andere viel wichtigere Spiele entdeckt. Anschließend gehe ich noch einmal wegen einer Bambusmatte ans Auto. Als ich zu unserem Platz zurückkomme ist meine Partnerin nicht da. Später auf dem Rückweg verschwinden die beiden Frauen im Gebüsch. Das erwähne ich nur, weil sie bei der Polizei angibt, ich wäre im Gebüsch verschwunden als ich Kinder gesehen habe. Ich könnte jetzt behaupten, dass sie, als sie Kinder gesehen haben, sogar zusammen im Gebüsch verschwunden sind. Solche Ideen sind krank und bedürfen der Hilfe eines Psychiaters. Aber das ganze Geschehen so darzu-stellen, wie es wirklich war, fordert beim Schreiber wie Leser gleichermaßen verständiges Ertragen. Die Kinder turnen derweil auf Mauern und Steinen umher. Als sie sehen, dass ihre Mütter „müssen“, müssen