Missbrauch mit dem Missbrauch. Rainer Bertram

Missbrauch mit dem Missbrauch - Rainer Bertram


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Ich kann einfach nicht verstehen, warum jetzt Gott und Welt um Rat gefragt werden muss. Sind wir nicht selbst Herr der Handlung. Wir haben doch in unserem Beruf den Anspruch nicht nur Moderatoren von Lernprozessen zu sein, sondern auch erzieherische Funktionen zu übernehmen. Wenn wir das schon bei den eigenen Kindern nicht ohne die Meinungen von dutzenden Beraterinnen und Beratern auf die Reihe kriegen, wie sollen wir das denn mit den uns anvertrauten Kindern anderer Eltern schaffen. Später, nach der Rückkehr ins Haus spreche ich Christel noch einmal an. Auch dass es mich ärgert, wenn Themen, die unsere kleine Familie betreffen, immer zuerst mit anderen und dann mit mir besprochen werden. Dass wir meist erst dann reden, wenn sie sich Rat bei anderen geholt hat. Was soll ihr denn die Freundin sagen? Die hat zwei Mädchen und betont immer wieder, dass sie bei Jungs nicht mitreden kann. Dass sie gar nicht mit der Freundin gesprochen hat, sondern mit ihrer Schwester, erfahre ich erst später durch den Polizeibericht. Ich versuche ihr klar zu machen, dass ich das zwar ernst nehme, aber von einer „normalen“ kindlichen Entwicklungssituation ausgehe. Mein Gott, sie müsste doch im Studium während der Vorlesungen über Entwicklungspsychologie auch über kindliche Sexualität gehört haben. Nicht nur ich weiß. dass ein Kind in dem Alter unserer Beiden beginnt sich zu entdecken, seine Geschlechtsorgane zu untersuchen und dabei vielleicht sogar herausfindet, dass es sie stimulieren kann. Als uns bei Levin auffiel, dass er manchmal mit zusammengepressten Beinen saß, haben wir herzlich gelacht und das als „hoppla Sohnemann fängt ja früh an“ eingeordnet. Dass er damit nur auf den Druck seines Darmes reagiert hat, haben wir übersehen. Sie hätte die Veröffentlichungen des Bildungs- oder des Gesundheitsministeriums zum Thema Sexualaufklärung lesen sollen. Es ist eigentlich auch ihre Pflicht, denn sie behandelt das Thema in der Schule. Vielleicht hätte ihr die Veröffentlichung der Kultusministerien Tipps zum kindgemäßen Umgang mit dieser Situation gegeben. Am Abend vor diesen Fotos haben wir gerade darüber gesprochen und herzlich gelacht.

      Wir haben alle drei ein Studium hinter uns, haben Sexualkunde in der Grundschule, ich in der Hauptschule unterrichtet. Die beiden Frauen unter-richten das immer noch. Wir wissen, dass Kinder zwischen drei und sechs Jahren sich mehr und mehr auch für das andere Geschlecht ihrer Spielkameraden interessieren, dass sie sich in ihrer geschlechtlichen Position absichern, indem sie sich mit Gleich-geschlechtlichen vergleichen und das andere Geschlecht erforschen. Wir haben doch gelernt, dass Kinder sich auch bei Doktorspielen mit Gleichaltrigen begreifen. Sie ziehen sich nackt aus und untersuchen sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Kinder wissen dabei durchaus, dass das, was sie tun, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist und ziehen sich meist dahin zurück, wo sie ungestört und unbeobachtet von Eltern und Aufsichtspersonen sind. Die Türe zum Kinderzimmer wird verschlossen, im Kindergarten trifft man sich auf der Toilette.

      Diese Doktorspiele haben nichts mit dem sexuellen Begehren eines Heranwachsenden oder Erwachsenen zu tun, sondern dienen ausschließlich der kindlichen Neugier. Die Kinder erkunden das andere Geschlecht und versichern sich außerdem, dass sie genauso sind wie andere Kinder des eigenen Geschlechts. Und wir haben doch gelernt, dass Doktorspiele meist in gegenseitigem Einvernehmen stattfinden, und zwar unter Kindern, die sich mögen und dass wir, wenn wir sie beim Doktorspiel erwischen, nicht schimpfen sollen, denn so könnte den Kindern Sexualität als etwas Negatives erscheinen. Wenn die Spiele tabuisiert werden, werden die Heimlichkeiten umso interessanter. Wir haben doch den Eltern bei Elternabenden zum Thema ausgeführt, dass man eine solche Situation als normal ansehen sollte. Das steht in jedem allgemein zugängigen Lehrbuch kindliche Entwicklung. Das sage ich ihr alles, aber die gegenüberliegende Wand hört mir interessierter zu als Christel. Sie hat wohl ganz andere Gedanken im Kopf. Sie antwortet mir nicht einmal, sondern steht auf und beendet das Gespräch. Eine letzte Bemerkung zu diesem Thema erinnere ich noch:

      „Die Kinder haben gespielt. Wir haben das doch früher auch alle gemacht. Nur haben die Beiden mit der Kamera ein neues Medium entdeckt. Das hatten wir nicht, hätten aber es sicher auch benutzt“.

      Das alles geht mir durch den Kopf, als ich das Geschehen kommentiere. Erschrocken stelle ich aber nur fest, dass sie aggressiv, fast bösartig reagiert. Mich beschleicht das Gefühl, dass hier etwas zum Streitthema hochstilisiert wird. Ihre Haltung, ihre Gestik und Mimik wirken gekünstelt. So kenne ich sie nicht. Ich dringe nicht zu ihr durch. Meine Frage ob sie über die Erfahrungen mit ihrem Freund hinaus noch etwas anderes Schlimmes erlebt habe, beantwortete sie empört mit “das reicht ja wohl“. Trotzdem kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendeine schlimme Erfahrung mit sich herumträgt. Ihr Blick ist verändert. Sie schaut mir nicht in die Augen, sie schaut unter sich, als sie mir das entgegenhält. Aber dann denke ich wieder an Urlaub und die unten wartende Doris Steinel. Dieses Thema hat Zeit bis wir wieder zuhause sind. Heute denke ich nicht mehr an eventuelle schlimme Erinnerungen, sondern nehme an, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits über die sich ergebene Chance nachdachte und mir deshalb nicht mehr in die Augen sehen konnte. Die Aussagen bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft und die Vorhaltungen bei der Amtsärztin bestätigen mich in dieser Annahme. Am Abend wird noch einmal über das Geschehen gesprochen, dann finden auch andere Themen wieder Platz. Die sehr problematische Beziehung der Freundin zu deren neuen Freund und unsere erheblichen Probleme mit dem Bau, die für meine Partnerin existenziellen Charakter haben, treten wieder in den Vordergrund.

      Rückblickend auf das Geschehene kann ich nur noch mit Entsetzen auf das schauen, was das Ganze bei Levin bewirkt. Er fühlt sich verantwortlich für den Verlust des Vaters. Er gibt sich die Schuld. Hätte er diese Fotos nicht gemacht, wäre sein Papa noch da.

      Überall muss er Fragen nach den Fotos beantworten. Das Kind ist klug genug (siehe die zornige Aussage bei seiner Schulleiterin) zu begreifen, dass dem Papa hier etwas „Böses“, „Unerlaubtes“, „Schlimmes“ unter-stellt wird. Noch viel schwerer wiegt diese Tatsache, weil alle für ihn völlig unsinnige und überflüssige Fragen stellen. Er kann damit nichts anfangen. Und dann wundert sich eine Anwältin, wenn er schweigt. Noch schlimmer, sie setzt das Schweigen gleich Bestätigung.

      Kann dieses Kind wirklich noch unbeschwert eine gesunde Einstellung zur Geschlechtlichkeit und zur Sexualität entwickeln? Wird Levin später, nach diesen sich einbrennenden Erkenntnissen zu seinen Erlebnissen einer Frau ohne Misstrauen begegnen können, vor allem wenn er an die eigene Mutter denkt?

      Was hat die gegnerische Anwältin, eigentlich in den diversen Arbeitsgruppen der Bundesministerien gelernt? Hat sie zugehört oder nur einen Anwesenheitsschein ausgefüllt? Wer? Wer hat unseren Sohn in den letzten Monaten missbraucht? Wer missbraucht unseren Sohn für seine eigenen Ziele? Warum gibt es keinen Paragrafen, der ein solches kinderschädigendes furchtbares Verhalten straft?

      Es gibt ihn! Nur müsste man ihn anwenden.

      Montag 02.07.2012

       noch 96 Stunden

      Doch zurück in den Urlaubsort. Heute steht Binz auf der Tagesordnung. Wir fahren los, die Kinder toben am Strand und machen sich so nass, dass wir für unseren Sohn ein T-Shirt kaufen müssen. Meine Partnerin geht zur Bank und kommt geschockt wegen der hohen Abbuchung fürs Haus zurück. Ich beruhige sie, dass die Kosten für den Urlaub doch bei mir liegen. Ihre Sorge gilt jedoch nicht den hohen Kosten, sondern ihrer Mutter. Was soll sie denn der Mutter sagen, wenn sie nicht genügend Geld zum Einkaufen im Outlet Center hat. Sie kann sich doch nicht blamieren und nein sagen, wenn ihre Mutter etwas für sie aussucht. Es ist wie früher, als wir uns kennenlernten. Mama flog mit ihr in den Urlaub. Da wurde dann von der Toilette des Hotelzimmers aus mit mir telefoniert, weil Mama nebenan im Bett lag und Zeitung las. Da wurde beim Strandspaziergang mit der Mama das Handy abgestellt, damit diese nicht mitbekam, dass eine SMS kam. Da wurde sogar ganz brav mit Männern ein Kaffee getrunken, weil die Mama diese für ihre Tochter als geeignet hielt.

      Damals fand ich diese Heimlichkeiten lustig und wir haben später oft noch darüber gelacht. Damals kannte ich aber ihre Abhängigkeit von ihrer Mutter noch nicht. Was ich als amüsantes Verheimlichen einer neuen Liebe hielt, war wohl doch schlichte, von „Angst“ gekennzeichnete Abhängigkeit. Nein, die Mama darf nicht erfahren, dass ihr Töchterlein ein Problem hat. Das erfolgreiche Töchterchen, das die Karriereleiter nach oben geklettert ist, darf


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