Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders

Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders


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sein, aber sein Auftraggeber, der Redaktionsleiter eines großen deutschen Magazins, besteht darauf, ihm einen Partner zur Seite zu stellen: einen gut zwanzig Jahre jüngeren Mann namens Enis, einen begabten jungen Journalisten mit türkischen Wurzeln.

      »Diese Feiglinge. Weil in der Story zwangsläufig eine Menge Türken vorkommen, buchen sie gleich einen türkischen Schreiber dazu. Das nennt man neudeutsch Political Correctness, so macht man sich unangreifbar.«

      Die Vorsichtsmaßnahme der Redaktion schmälert sein Honorar und trifft sein Ego. Trotzdem wird Mitch den Auftrag annehmen, seine Kontoauszüge sprechen eine deutliche Sprache. Es ist weiß Gott nicht leicht, sich als freier Journalist durchs Leben zu schlagen.

      Mitch springt auf, läuft auf seine Terrasse und wartet, dass der Blick auf die Frankfurter Skyline bei Sonnenuntergang ihn beruhigt.

      Fehlanzeige.

      Also muss ein guter Schluck Rioja Reserva helfen.

      Klappt schon besser.

      Wer auch immer am Himmel Regie führt, er gibt alles, um Mitch Berger zu beruhigen. Ein wunderschöner Sonnenuntergang wird heute Abend geboten, einer von denen, die nicht mit violetten Tönen geizen. Wenn selbst ein solcher Sonnenuntergang nicht reicht, um seinen Blutdruck zu senken, dann hat Mitch ein Problem.

      Und er weiß auch, was für eins.

      Es geht nicht um den Job.

      Sein Leben erscheint ihm zunehmend als Endlosschleife. Alles wiederholt sich, immer wieder von vorne.

      Okay, er hatte vor Kurzem Erfolg gehabt. Er hatte international Schlagzeilen gemacht, weil es ihm unter hohem persönlichem Einsatz gelungen war, ein übles Psycho-Sanatorium zu schließen und auf den Datenmissbrauch eines großen Internetkonzerns aufmerksam zu machen.

      TV-Auftritte in wichtigen Nachrichtensendungen folgten, sogar eine Live-Schalte für CNN, an dem Tag, als der amerikanische Ableger des Sanatoriums aufflog.

      Mitch Berger auf allen Kanälen.

      Er hat so ein Hoch nicht zum ersten Mal erlebt, er kennt den Rhythmus inzwischen, denn plötzlich ist die Story durch – und in Mitchs Leben waren die Scheinwerfer ausgegangen.

      Claire hatte ihn verlassen. Claire, deren Leben er riskiert und deren Leben er gerettet hatte.

      Claire, die Stil hatte – und sich mit einem Brief von ihm verabschiedete.

      Und gegen diesen Brief hilft kein noch so schöner Sonnenuntergang.

      Claire schrieb, sie müsse endlich verstehen, was mit ihr los sei. »Und neben dir, Mitch«, schrieb sie, »neben dir werde ich mich nie finden, weil du leider ein unglaubliches Talent besitzt, jedem Date mit dir selbst auszuweichen.«

      »Was für ein blöder Spruch«, murmelt Mitch, »warum können wir beide nicht ganz einfach zusammenbleiben und glücklich sein?«

      »Weil du es gar nicht willst, weil du in jedem Moment an die Vergänglichkeit denkst, weil du dich im Sonnenschein schon nach dem Mondlicht sehnst, weil du so bist, wie du bist«, antwortet die Claire in seinem Kopf.

      Er hatte den Brief wieder und wieder gelesen, hatte ihn um die Zeilen ergänzt, die Claire aus Feingefühl weggelassen hatte.

      »Weil du fast zwanzig Jahre älter bist als ich, weil ich nicht in dein Leben einziehen will, weil ich mein eigenes suchen muss, weil du deinen Blues mehr liebst als dich selbst, weil du dich in deinem Unglücklichsein eingerichtet hast, weil du mich damit runterziehst.«

      Das hatte Claire zwar nicht geschrieben, aber sie hatte es gemeint. Und sie hatte verdammt recht.

      Mitch schüttelt den Kopf, er hat jetzt keinen Bock mehr, weiter zu grübeln.

      Der neue Job ist einfach und doch anspruchsvoll.

      Mitch hat diesmal ein Heimspiel gewonnen. Das Magazin will einen großen Artikel über das Frankfurter Bahnhofsviertel, über das Quartier, das gerade einen Riesenhype erfährt, in dem die Preise für Immobilien explodieren, was Investoren aus aller Welt anzieht. Die paar Straßen zwischen Hauptbahnhof und Städtischen Bühnen, zwischen Mainzer Landstraße und dem Main standen bis vor Kurzem für ein runtergekommenes Rotlichtmilieu, für eine krasse Junkieszene, aber auch für ein weitgehend friedliches Multikultimit- oder besser -nebeneinander. Dann aber kamen junge Hipster, Studenten, Künstler, die das Viertel aufmischten. Clubs und Bars eröffneten neben Moscheen und türkischen Gemüsemärkten. Neue Lokale siedelten sich an, hatten Erfolg. An warmen Abenden entwickelte sich die Münchener Straße, eine der drei parallelen großen Achsen des Viertels, zur Partymeile.

      Mitch geht zu seinem Schreibtisch, auf dem Hochglanzprospekte von Immobilienfonds liegen, die ihm der Redaktionsleiter gestern in die Hand gedrückt hat.

      »Ihr Job, lieber Herr Berger«, hatte der Magazinmann ausgeführt, »ist ganz einfach. Zunächst will ich wissen, wie das Leben jetzt funktioniert, also wie kommen die Leute miteinander klar, die türkischen Händler mit den neuen Hipstern, die Moscheebesucher mit den Junkies, die Nutten mit den paar Uraltbewohnern, die es auch noch gibt. Hat sich durch die Flüchtlinge etwas verändert? Und dann erzählen Sie unseren Lesern, was passiert, wenn über so einem Viertel ein paar hundert Millionen Immobilien-Euro abgeworfen werden.«

      Ein gutes Bild, muss Mitch zugeben.

      Und die Prospekte vor ihm zeigen, dass es ein stimmiges Bild ist. Internationale Immobilienfonds sammeln Gelder ein, russisches, chinesisches, arabisches Geld, dazu ein wenig Drogengeld aus Kolumbien und Mexiko, und alles verwandelt sich in strahlend schöne Eigentumswohnungen im Frankfurter Bahnhofsviertel, alle Konten sind sauber, alles ist ganz legal. Ob die Käufer jemals dort einziehen, ob sie vorhaben, die Wohnungen zu vermieten, oder sie als Kapitalanlage auf unbestimmte Zeit leer stehen lassen, wird von niemandem kontrolliert.

      Das neue Geld wird alles Gewachsene vernichten, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das Rotlichtmilieu wird schrumpfen, sich jedoch halten, solange die Bordelle Geld machen und sich das Sexgeschäft nicht völlig ins Internet verlagert. Hart treffen wird es die Mieter hier und vor allem die vielen kleinen Läden, die heute das Viertel prägen, türkische Fischgeschäfte, indische Gewürzläden, marokkanische Teestuben. Nicht zu vergessen die letzten übrig gebliebenen Eckkneipen, in denen samstags die Spiele der Eintracht laufen und deren Siege mit einer Lokalrunde nach der anderen gefeiert werden. Wild Gewachsenes wird langfristig eintönigen Esstempeln, coolen Bars und hippen Champagnerschwemmen weichen.

      Für die türkischen Händler ist sein neuer Partner Enis zuständig, man wird sich streiten müssen, wer die Inder bekommt. Mitch weiß jetzt schon, wie die Redaktion den Streit entscheiden wird – alles, wo Muslim draufsteht, gehört Enis. Einfache Logik: Tritt man einem Muslim auf die Füße, macht das besser ein anderer Muslim.

      So lösen das deutsche Redaktionen.

      Mitch kennt Enis nur vom Hörensagen und jetzt gerade von dem Anruf.

      »Scheint ein harter Knochen zu sein«, denkt Mitch, »der Typ bestellt mich einfach um 21:00 in eine Bar, von der ich noch nie gehört habe, und erklärt mir noch dreimal, wie die Tür aussieht, als hätte ich je Schwierigkeiten gehabt, den Eingang zu einer Bar zu finden. Und legt dann einfach auf, ohne abzuwarten, ob mir der Platz passt. Arroganter Typ.«

      Da bei ihm noch nie etwas gegen das Kennenlernen einer neuen Bar gesprochen hat, verzichtet Mitch darauf, auf Eskalation zu schalten und die Zusammenarbeit mit einem Hahnenkampf zu beginnen. Er macht sich rechtzeitig auf den Weg ins Bahnhofsviertel, das er von früher her gut kennt. Nur die letzten Veränderungen hat er verpasst.

      Die Hauptachse des Viertels, die Kaiserstraße, ist schon in der neuen Zeit angekommen. Schicke Esslokale dominieren, die Tische sind voll mit Touristen aus aller Herren Länder. Einzig ein Dolly-Buster-Sexshop zeigt üppig, womit hier früher Geld gemacht wurde.

      Mitch biegt in die Elbestraße ein, wundert sich, dass viele zum Teil prächtige Häuser vernagelt sind. Und das legendäre »Pik-Dame« ist in einer Baugrube verschwunden. Zwei Kräne ragen in die Höhe. Da, wo Enis die Tür der Bar beschrieben hat, kauern gut dreißig Junkies auf der Straße.


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