Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders
Kassette mit Geld drin. Nimm dir einen Fünfziger und hol mir eine Flasche Courvoisier. Kannst den Rest behalten.«
Erwin nickt, geht in das Arbeitszimmer, findet tatsächlich die Kassette auf dem Schreibtisch. Er fischt sich einen Fünfziger heraus, alles unter den neugierigen Blicken eines Regiments von Tonsoldaten aus dem Regal gegenüber.
Erwin verlässt jetzt die Wohnung, wendet sich im ersten Hinterhof in die andere Richtung, steht nun vor einer schmucklosen zweistöckigen Lagerhalle, die wie eingeklemmt zwischen dem Hotelflügel und dem leer stehenden prächtigen Gründerzeithauptgebäude steckt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man an Schildern in arabischer Schrift, dass es sich bei der Halle um eine Moschee handelt. Die Hinterhofmoschee wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie erinnert an die Jahre, als Muslime in Deutschland noch eine seltene Spezies waren. Die Halle stand lange leer, dann hat der alte Steinhoff sie vor gut zehn Jahren an einen paschtunischen Moscheeverein vermietet. Dafür wurde der Alte von seinem Sohn, aber auch von den meisten seiner Bekannten heftig kritisiert.
Erwin schimpft vor sich hin, als er zwei Frauen mit Kopftuch aus dem Gebäude kommen sieht. Er wird nie begreifen, warum der Alte ausgerechnet an Muslime vermietet. »Er gibt den großen Deutschen, erzählt mit Inbrunst, wie er seinen Hund auf bettelnde Zigeuner gehetzt hat, aber er vermietet an gottverdammte Muslime!«
Mitch und Enis schlendern durch das Viertel. Enis ist gut bekannt hier, er begrüßt da einen Gemüsehändler, plaudert dort mit einem Kebabverkäufer, klatscht sich mit einem Friseur ab, dessen Haarschnitt seinem ziemlich ähnlich sieht. »Ist das der Mann, der dir zu deinem Kunstwerk verholfen hat?«, frotzelt Mitch.
Enis schüttelt den Kopf, biegt in die Elbestraße ein und zeigt auf einen prächtigen, offenbar leer stehenden Block von gut achtzig Meter Länge. »Das Ding hier gehört dem alten Steinhoff, über den wir gerade gesprochen haben. Steht alles leer, vergammelt, ist Millionen wert. Dazu gehört noch ein Hinterhaus, genauso groß, das ist mit Quergängen mit dem Vorderhaus verbunden. Das ganze Areal hat mehrere Hinterhöfe, in einem steht sogar eine kleine Moschee. Vom letzten Hinterhof aus kommst du bis rüber zur Kaiserstraße. Hier vorne in dem Seitenflügel betreibt der Alte noch sein Hotel, den Kölner Hof, wohl mehr als Hobby.«
»Wieso lässt er den Riesenkasten leer stehen, ist doch reine Verschwendung?«
»Keine Ahnung, angeblich gibt es Krach in der Familie, sein Sohn, hab ich mal gehört, will den ganzen Laden verkaufen, der Alte wehrt sich dagegen. Er ist verrückt. Kennst du die Geschichte des Kölner Hofs?«
Mitch schüttelt den Kopf. »Nein.«
»Es gab früher einen Kölner Hof ganz nah am Bahnhof. Das war ein Riesenschuppen, der 1892 eröffnet wurde und damals damit warb, das einzig judenfreie Hotel in Frankfurt zu sein. Der Besitzer war ein glühender Antisemit, dem es gelang, sein Hotel stetig zu vergrößern. Natürlich trat er schon weit vor der Machtergreifung in Hitlers Club ein und saß als Stadtverordneter im Römer. Hermann Laass hieß der Typ. Anscheinend hält sich der alte Steinhoff für seine Reinkarnation, heißen ja auch beide Hermann.«
»Was für eine miese Geschichte, deswegen der Name Kölner Hof. Musst du erst mal drauf kommen, ich dachte, der Mann ist aus Köln. Oder Karnevalfan oder so was. Hermann, kein schlechter Name für ihn. Der Namenspatron aller Hermanns, der fette Göring, war Fixer. Passt doch ins Viertel.«
»Echt, der Göring war Fixer?«
Mitch schüttelt sich, spuckt auf den Boden, blickt dann rüber zu Enis. »Ja, war er. Hat halt immer cleanes Zeug gehabt, dann hältst du das jahrelang durch. Da sind wir wieder bei dem Großvater im Einkaufswagen. Wie gesagt, den wirst du nicht los in unserem schönen Deutschland.«
3
Dr. Carl Steinhoff hat einige Telefonate geführt, einige Mails bearbeitet und ein sehr langes Gespräch mit Benno Stiller geführt. Stiller hat ihm deutlich wie selten gesagt, dass er endlich mit dem Ausweichen und Taktieren aufhören müsse.
Carl Steinhoff war wütend danach, Benno war sehr fordernd aufgetreten, völlig respektlos. Aber er hat keine Wahl, er kann Benno nicht zum Teufel jagen, noch nicht. Er braucht ihn und seine Verbindungen.
Carl Steinhoff erhebt sich ächzend aus seinem bequemen Schreibtischstuhl. Leicht hinkend, aber nach wenigen Schritten sicherer, strebt er Richtung Tür.
»Marianne, ich bin weg, habe ein Treffen mit den CCB-Leuten, dann werde ich zu Mittag essen. Ich möchte die nächsten Stunden nicht gestört werden, keine Gespräche durchstellen, bitte. In ganz dringenden Fällen schicken Sie eine SMS.«
Marianne nickt, Steinhoff weiß nur zu gut, dass sie es hasst, jetzt völlig allein im Büro zu bleiben. Als die Außentür des Büros ins Schloss fällt, wartet Steinhoff draußen einen Moment, dann hört er, dass von innen die Tür verriegelt wird. Es gibt zwei Schlösser, und beide werden zweimal abgeschlossen.
Steinhoff lächelt, dann macht er sich auf den Weg. Trotz der Schmerzen im Bein geht er den kurzen Weg zum Hotel Roomers in der Gutleutstraße zu Fuß.
Schon nach wenigen Metern bereut er das. Es ist ein warmer Tag heute, er wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er hat zugenommen, das macht sich jetzt bemerkbar. Er bleibt einen Moment stehen, beobachtet sein Spiegelbild in der Heckscheibe eines illegal geparkten SUVs. Eigentlich ist er zufrieden mit seinem Aussehen, die weißen Haare verleihen ihm eine gewisse Seriosität. Seine Augen sind müde, vom Grübeln wie vom Trinken. Dann flucht er plötzlich vor sich hin: »Da steh ich, ein Mann Ende vierzig, schon mit weißen Haaren, und habe immer noch ein verdammtes Vaterproblem. Was hat sich eigentlich geändert in meinem Leben? Immer noch springt mir der verrückte Alte auf der Nase rum.«
Carl Steinhoff hat einen Großteil seiner Jugend alleine mit seinem Vater verbracht. Als der Junge sieben war, warf der Alte seine Mutter raus. Die Frau sackte lieber einen fetten Scheck ein, als um ihren Sohn zu kämpfen. Carl hatte eine freudlose Jugend. Mit fünfzehn wurde er von seinem Alten in einen Puff geschleppt, in dem sein Vater selbst Stammgast war. Carl hasste es, wenn ihm die Frauen erzählten, was für ein toller Typ der Alte sei. Seine Jugend war eine Achterbahnfahrt zwischen Nazisprüchen und einem Schuss Bahnhofsviertel-Gangsterromantik.
Ja, er hatte sich oft alleine, hilflos, ungeliebt gefühlt. Er war nicht nur ohne Mutter, sondern auch fast ohne Freunde aufgewachsen. Sobald er konnte, verließ er die kalte, verhasste Wohnung im Kölner Hof, er mochte die Zinnsoldaten nicht mehr sehen und auch nicht die Spielzeugausgabe von Hitlers Mercedes-Cabrio mit der am Kotflügel montierten Hakenkreuzflagge. Carl studierte Betriebswirtschaft in Heidelberg, fuhr selten nach Hause, bekam einen monatlichen Scheck und versuchte den Alten zu vergessen. Erst wollte er ihn ärgern und spielte mit dem Gedanken, einer linksradikalen Studentengruppe beizutreten. Deren Versammlungen aber langweilten ihn zu Tode. Also beschloss er, die Finger von der Politik zu lassen, und stürzte sich ins Studium. Ihn interessierte nichts wirklich, er wollte nur schnelle Bestätigung und Geld. Geld hatte er bald, aber Bestätigung fehlte, also begann er sie zu kaufen. Wenn er mit Freunden ausging, zahlte er. In dieser Zeit begann er sich für Glücksspiele zu begeistern. Trotz allem gelang ihm ein passables Diplom, mit Mühe schaffte er sogar den Doktor. Dann allerdings fuhr er kurz hintereinander drei Firmen, die er mit wechselnden Partnern gegründet hatte, an die Wand. Unter Hinweis auf sein zu erwartendes Erbe besorgte er sich verschiedene Kredite von der Bank.
Ein einziges Mal hatte er geschäftlichen Erfolg – mit der Beteiligung an einem Fonds, der auf der Kanareninsel Fuerteventura eine Retortenstadt namens Caleta de Fuste hochzog. Er verkaufte rechtzeitig seine Anteile und hatte erstmals Geld. Davon leistete er sich eine Villa in Kronberg, die jetzt sein Ein und Alles ist.
Danach gelang ihm nicht mehr viel, und er begann gezwungenermaßen für den Alten zu arbeiten. Sein Vater liebte es, ihn mit Herr Doktor anzureden und ihn dann zu einem Haufen schwachsinniger Jobs zu verdonnern. Für Carls Selbstbewusstsein war die Konstellation fatal.
Er kompensierte die Beleidigungen des Alten durch Erhöhung seiner Ausgaben. Bald wurde Carl Stammgast der Casinos in Bad Homburg, Wiesbaden und Baden-Baden. Am Roulettetisch fühlt er sich bis heute