Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders
Crackstein bückt. Seine Bewegung ist unnatürlich verlangsamt. Er braucht fast eine Minute, bis seine Finger das Straßenpflaster erreichen.
Erstarrte, gezeichnete Gesichter mit nach innen gedrehten Augen. Zwei Gestalten kauern in einem Hauseingang, der eine hält ein Feuerzeug an eine kurze Crackpfeife. Zwei Meter weiter wird auf einem Kochlöffel eine braune Flüssigkeit erhitzt, die Soße dann in eine Einwegspritze gezogen und in eine freie Vene am Unterschenkel gejagt. Inmitten der Elendsgruppe fällt Mitch eine blonde Frau auf, der man ansieht, dass sie einmal in ganz anderen, eindeutig besseren Kreisen verkehrte. Sie hält sich gerade, und über ihr von Drogen zerstörtes Gesicht huscht eben ein leicht ironisches, fast stolzes Lächeln.
Mitch spürt plötzlich ein tiefes Verlangen nach einer Zigarette, obwohl er schon seit Jahren clean ist. Verdammt, man müsste alle hier einpacken, zu einer Therapiestation fahren, ihnen eine Chance geben.
Dann schüttelt er den Kopf. Wahrscheinlich hatten sie alle schon dreimal ihre letzte Chance.
Die Tür ist schwarz gestrichen, ziemlich schmal. Daneben ein unauffälliger goldener Klingelknopf. Mitch drückt, wartet, und nach einigen Minuten öffnet sich die Tür und ein freundlich lächelnder Mann bittet ihn herein.
Es ist düster, alles in dunklen Farben gehalten, eine kleine Sitzgruppe, im Hintergrund leuchtet geheimnisvoll eine verdammt gut ausgestattete Bar.
Mitch betrachtet die Flaschen, grinst anerkennend.
»Du musst Mitch Berger sein, willkommen im Kinly, ich bin Enis Citoglu.«
Vor Mitch steht ein gut aussehender Mann Ende zwanzig, mit einem intelligenten, offenen Gesicht, dunklen Augen und einer Frisur, die Mitch sonst nur von Fußballern kennt.
»Hi Enis, Kompliment, spannende Location hier. Und starke Frisur, ich dachte, Undercut sei out?«
»Aber nicht doch, höchstens für Leute mit schwachem Haarwuchs. Bei dir würde es ziemlich albern aussehen.«
Mitch grinst. »Alles klar. Und schlagfertig bist du auch noch. Ist doch was.«
Die beiden grinsen sich an, der Anfang hat geklappt. Mitch bestellt einen Sidecar auf Whisky-Basis mit einigen Hundert anderen Zutaten.
Er schlürft genüsslich, dann blickt er Enis an. »Die Location passt zur Story, oben Crack, unten serious drinking. Gefällt mir. Eine Sache aber muss geklärt sein, bevor wir hier zusammen trinken. Hast du dich in den Auftrag gedrängt oder haben die Hamburger dich reingedrückt?«
Der Konter kommt sofort. »Die Redaktion weiß, dass ich mich im Bahnhofsviertel auskenne, bei dir waren sie sich wohl nicht so sicher. Sie wollen aber wohl eine Edelfeder, die mein schlechtes Deutsch aufbrezelt.«
Dann erzählt Enis, dass er schon öfter für das Magazin gearbeitet hat, dass aber nach der Affäre um einen fälschenden Reporter neuerdings gerne mit zwei Autoren gearbeitet werde. »Wir sollen wohl gegenseitig drauf achten, dass hier keinem die Fantasie durchgeht.«
Mitch grummelt. »Okay, passt, das kann gut sein.«
Er nippt wieder an seinem Drink. »Von wo aus der Türkei kommst du eigentlich?«
Enis stöhnt. »Nicht dein Ernst jetzt, ich komme aus Bornheim, habe mein Leben lang hier gelebt, frag bitte nicht so ne dumme Scheiße.«
»Hey, komm runter, dann halt: Woher kommt dein Großvater? Bist du Kurde oder Türke, oder was?«
»Warum interessiert dich das? Ich frage dich auch nicht, ob du evangelisch oder katholisch bist oder ob du Annalena Baerbock schärfer findest als Saskia Esken?«
Mitch schüttelt sich. »Mann, hör auf, weder noch, zweimal weder noch. Ihr regt euch immer so fürchterlich schnell auf. Wie beim Fußball. Mann, wenn wir tausend Fahnen mit ins Stadion schleppen, dann kommt ihr mit zwanzigtausend und alles tobt, Türkiye, Türkiye, als wolltet ihr gleich irgendwo einmarschieren. Und wenn ihr gerade mal wieder irgendwo einmarschiert seid, dann muss jeder Torschütze beim Jubeln strammstehen und salutieren.«
»Mitch, mach langsam und fang nicht mit Fußball an. Wo wäre denn die deutsche Nationalmannschaft ohne Gündogan oder Emre Can? Und wenn die Deutschen schon mal einen begnadeten Mittelfeldspieler haben, dann wird der fast gelyncht, nur weil er nicht Einigkeit und Recht und Freiheit schmettert.«
»Und weiter, trifft mich nicht. Ich habe immer zu Özil gehalten. War ein guter Spieler. Löw brauchte nach der beschissenen WM halt einen Sündenbock. Aber warum, verdammt noch mal, stellt sich Özil auch mit Erdogan aufs Foto und macht den Typ später noch zu seinem Trauzeugen?«
»Aus Respekt vor seinen Eltern vielleicht und weil er all den Leuten einen Finger zeigen wollte, die ihn im Stadion auspfeifen. Mitch, ja, es stimmt, viele Türken sind ein wenig hysterisch, wenn es um Erdogan und die alte Heimat der Eltern geht. Aber mach mich nicht an wegen Erdogan, meine Freunde sitzen in der Türkei im Knast, nicht deine. Und noch was, ich sage dir, es ist verdammt schwer, sich in dieses Deutschland einzuleben. Weißt du, warum? Weil viele Deutsche zu sich selbst und ihrem Land ein total verklemmtes Verhältnis haben. Manchmal denke ich, die Deutschen ersticken an ihrer Geschichte. Entweder sind sie total stolz darauf, dass ihr Großvater in Stalingrad den Heldentod für den Führer gestorben ist, oder aber sie haben Probleme mit Deutschland, eben weil der Großvater ein verdammter Nazi war. Die ganze 68er-Generation ist doch so drauf. Nur, was habe ich mit dem verdammten Opa zu tun?«
Mitch blickt Enis nachdenklich an, nickt. »Stimmt, Enis, stimmt ziemlich genau. Ich kenne den Opa gut, von dem du da erzählst, bei älteren Freunden war es auch der Vater. Aber, sorry, als du den deutschen Pass angeklickt hast, da war der Opa mit im Warenkorb. Sorry, keine Retoure möglich, den wirst du nicht mehr los. Willkommen in Deutschland, einem Land mit Geschichte.«
Mitch schweigt einen Moment, winkt dann dem Barkeeper. »Noch mal dasselbe, die Runde geht auf mich.« Dann dreht er sich zu Enis. »Okay, wir machen die Story. Cheers! Lass uns morgen anfangen zu arbeiten, jetzt trinken wir einen.«
2
Um acht Uhr ist es noch ruhig im Viertel.
Ein Transporter hält in der zweiten Reihe vor einem türkischen Markt, ein Mann in einem weißen Kittel und einer Frisur, die an die Haartracht des Liverpooler Stürmers Mo Salah erinnert, springt aus dem Fahrerhaus, läuft um den Wagen, öffnet die Flügeltüren hinten, holt ein rötlich-metallisch schimmerndes, enthäutetes Lamm heraus und trägt das Tier in den mit Waren überladenen Laden.
Eine schwarze Mercedes-Limousine nähert sich, blinkt, quetscht sich mühsam an dem Transporter vorbei. Der Fahrer, ein übergewichtiger Schlipsträger, macht eine wütende Geste Richtung Hindernis.
Der Mercedes beschleunigt kurz, blinkt dann links, biegt in die Toreinfahrt eines prächtigen, aber jetzt langsam verfallenden großen Gebäudes ein. Die Tore sind über und über mit Graffiti besprüht. Über der Einfahrt hängt ein Schild »Hotel Kölner Hof, bitte rechten Nebeneingang benutzen«.
Der Wagen hält jetzt in dem heruntergekommenen Hinterhof. Es ist still hier, die belebte Straße draußen scheint weit entfernt. Unmittelbar neben dem dunklen Mercedes türmen sich Bauschutt, gebogene Kupferrohre, Fliesenreste aller Art. Die Gebäude, die den Hinterhof umschließen, wirken verlassen. Fast alle Scheiben sind zerschlagen, die Fensterrahmen herausgerissen. Nur über dem Eingang des bewohnten Querflügels hängt ein windschiefes Schild »Hotel Kölner Hof«.
Der Mann, der leicht hinkend den Wagen verlässt, fällt auf in dieser Umgebung. Der korpulente Endvierziger trägt schwarze Budapester Schuhe, eine untadelig gebügelte schwarze Hose, ein leuchtend weißes Hemd, geschmückt mit einer roten Krawatte, darüber einen dunkelgrünen Janker mit silbernen Knöpfen.
Er achtet bei jedem Schritt peinlich genau darauf, seine Garderobe möglichst staubfrei zu halten. Durch eine Tür zu einem der Seitenflügel erreicht er ein Treppenhaus, in dem man unter all dem Schutt und Staub die Pracht vergangener Zeiten noch immer erahnen kann.
Die Tür, vor der er stoppt, passt überhaupt nicht zu diesem heruntergekommenen