Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders
Ihm kommt ein Rentner entgegen, der mühsam eine größere Topfpflanze in einer Plastiktüte schleppt. Der Mann im blütenweißen Kaftan weicht dem Rentner aus, stößt dabei fast gegen eine übergewichtige Osteuropäerin, deren voluminöse Oberschenkel in eine enge Stretchhose mit Leopardenmuster gepresst sind. Dann fällt der Blick des jungen Mannes auf das Schaufenster des Reisebüros Manatours. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, ein knallbuntes Plakat mit einem Bild der Kaaba fordert die Gläubigen auf, ihre Reise zur Hadsch nach Mekka jetzt und hier zu buchen. Der Mann wendet sich Richtung Bahnhof Höchst. Er biegt nach rechts ab auf den Parkplatz eines großen Asia-Supermarktes. Er läuft durch eine überdachte Einfahrt, in der jede Menge Holzpaletten gespeichert sind. Durch das gelbliche Plexiglasoberlicht fällt fahles Licht. Eine Taube flattert laut gurrend auf, der Mann stoppt eine kurze Sekunde, läuft dann weiter, bis er vor Hinterhofgaragen und einer schmalen Tür steht.
Er klopft, die Tür öffnet sich, er huscht in einen halbdunklen, schmucklosen, mit Teppichen ausgelegten Raum.
Er wird von fünf jungen, ebenfalls bärtigen Männern mit allen Zeichen des Respekts begrüßt.
»Ahlan wa sahlan, Ibrahim, sei gegrüßt im Namen Gottes.«
Mitch macht sich auf den Weg, er ist mit Enis in einem Café in der Münchener Straße verabredet. Auf der Kaiserstraße spricht ihn ein hochgewachsener weißhaariger Schwarzer in perfektem Deutsch an, bittet im Namen Gottes um einen Euro. Mitch ist verblüfft, das Auftreten und die gepflegte Sprache des Mannes erstaunen ihn. Er wühlt in seiner Hosentasche, findet keine Münzen, sieht die Enttäuschung in den Augen seines Gegenübers und drückt ihm kurz entschlossen, ganz gegen seine Gewohnheiten, einen Fünf-Euro-Schein in die Hand. Vor Überraschung fällt der Mann in seine Muttersprache und wünscht Mitch im weichen Englisch der Karibik ein langes glückliches Leben, auch für alle seine Kinder. »Schade, dass ich keine habe«, flüstert Mitch.
Gut gelaunt kommt er vor dem Café an und wird von Enis begrüßt, der es sich in einem kleinen Korbsessel auf dem Bürgersteig bequem gemacht hat. Er lacht, als Mitch ihm von der Sauna 2000 erzählt.
»So Stories gab es viele in den wilden Zeiten. Als die großen Bordelle oder Laufhäuser aufmachten, gaben die Betreiber die strikte Parole aus: Keine Zuhälter in den Häusern. Dann drängten schwarze Frauen auf den Markt, die bei den Kunden schnell hoch im Kurs standen. Nur kamen mit ihnen schwarze Zuhälter, die meistens auch die Dealer der fast immer drogenabhängigen Frauen waren. Und die scherte es einen Scheiß, dass die Häuser für sie gesperrt waren. Plötzlich bemerkten die Bosse, dass sie ihre Befehle nicht durchsetzen konnten. Ihnen fehlten schlicht genügend Soldaten auf der Straße. Also wurden Zuhälter aus Hamburg und Berlin eingeflogen. Dann begann im Bahnhofsviertel die große Jagd auf alles, was schwarz war. Dummerweise waren die deutschen Zuhälter zu blöde, um zwischen afrikanischen Zuhältern und schwarzen GIs zu unterscheiden. Die US-Jungs aber waren damals eine sehr kaufkräftige Klientel. Als die Umsätze in den Bordellen merklich zurückgingen, wurde die Aktion abgebrochen.«
Beide lachen, nippen an ihren Tassen. Mitch wird plötzlich nachdenklich: »Ja, es gibt hier eine Menge starker Geschichten. Mich fasziniert die Story der Beker-Brüder, die lange Zeit als die heimlichen Chefs des Viertels galten. Dass nur gut drei Jahrzehnte nach dem Holocaust sich zwei Juden in einem deutschen Rotlichtviertel durchsetzen konnten, aus dem Stoff würde man in Hollywood einen Blockbuster machen. Aber für unsere Story sind das natürlich alte Kamellen, unsere Geschichte spielt heute und muss danach fragen: Ist das hier wirklich ein friedliches Multikulti-Biotop, oder laufen unter der bunten Decke ganz andere Sachen ab? Wir dürfen auf keinen Fall eine Friede-Freude-Eierkuchen-Story abliefern. Wir müssen auch die bösen Jungs beschreiben, die Konflikte zwischen den alten Bewohnern und den neu Angekommenen. Und dann sehen, wie der Einmarsch des Geldes alles verändert.«
Die beiden vertiefen sich jetzt in ihre Unterlagen, da wird es mit einem Mal laut. Mitch und Enis sehen, wie ein älterer, leicht angetrunken wirkender Mann auf der anderen Straßenseite eine Frau mit Kopftuch anschreit, ihr plötzlich das Tuch vom Kopf reißt und es mit höhnischem Gelächter über seinem Kopf schwenkt. Zwei arabisch aussehende junge Männer, die die Szene beobachtet haben, packen den Mann, entreißen ihm das Kopftuch. Eine rechte Gerade trifft die Nase des Alten, der blutend zu Boden geht. Die beiden jungen Männer reichen der Frau ihr Tuch, schimpfen noch einen Moment auf den Angreifer am Boden ein und gehen dann weiter.
Der ältere Mann erhebt sich stöhnend, wischt sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase, dann überquert er leicht schwankend die Straße, kommt auf Mitch und Enis zu.
Mitch steht auf, reicht ihm ein Tempotaschentuch. »Mann, warum machst du auch die Frau an, was soll der Schwachsinn?«
Der Alte blickt Mitch an, zuckt die Schultern, nuschelt: »Geht dich nen Scheiß an, ich kann die Kopftuchweiber nicht ab.« Dann dreht er sich abrupt um, schlurft die Münchener Straße hoch.
»Den Kerl kenn ich«, murmelt Enis, »heißt Erwin, ein ziemlich fertiger Typ. Schleicht hier seit Jahren rum, macht Botengänge, hauptsächlich für den alten Steinhoff vom Kölner Hof. Da passt er gut hin.«
Mitch schaut Enis fragend an.
»Na, der Steinhoff war mal ne große Nummer hier, dem gehört das Hotel Kölner Hof. Das war früher dreimal so groß, aber ihm gehört immer noch die gesamte, sehr große Immobilie. Er ist ein alter Nazi, in seinem Büro hängt angeblich ein Hitlerbild. Früher hat er zu seinen Geburtstagen legendäre Feten geschmissen. In der Zeit der Bekers hat er wohl ein paar Mal aufs Maul gekriegt. Heute ist er scheintot, früher aber war immerhin Benno Stiller sein Mann fürs Grobe.«
»Und wer bitte ist Benno Stiller?«
Enis blinzelt Mitch an. »Du hast doch gerade gesagt, dass du die bösen Jungs kennenlernen willst. Dann wirst du früher oder später auf Benno Stiller treffen. Nur so viel, der war mal Bulle, eine richtig große Nummer sogar. Er soll für einen Beamten eine viel zu dicke Brieftasche gehabt haben. Er durfte in allen Bordellen frei vögeln, nur irgendwann eröffnete die Innenrevision ein Verfahren gegen ihn. Danach quittierte er ziemlich schnell den Dienst. Man ließ ihn gehen, die Ermittlungen wurden eingestellt, der Mann wusste einfach zu viel über zu viele. Du wirst ihn kennenlernen.«
»Kann es kaum erwarten«, murmelt Mitch.
Der Mann mit der blutenden Nase, sein voller Name lautet Erwin Fredeking, bleibt vor einem sehr großen Block stehen, dessen Eingangstore geschlossen sind. Erwin läuft an der mit Graffiti übersäten Hauswand entlang, bis er einen Nebeneingang erreicht hat, über dem ein Schild auf das Hotel Kölner Hof hinweist. Erwin stoppt jetzt, kramt nach einem Tempotaschentuch und säubert sich notdürftig das Gesicht.
Dann verschwindet er in dem Eingang, läuft an einer leicht vergammelten Rezeption vorbei, der man ansieht, dass sie schon bessere Tage gesehen hat. Er steht jetzt im ehemaligen Dienstbotentreppenhaus des Blocks. Erwin nimmt einen Seitengang, geht an einem PRIVAT-Schild vorbei, folgt dem Gang, passiert schwere altdeutsche Möbel, klopft an einer Tür, die einmal schön und wertvoll gewesen sein muss.
Die Tür öffnet sich, eine Wolke aus kaltem Rauch strömt ins Treppenhaus, Erwin betritt die Wohnung. Der Alte befindet sich, wie fast immer, wenn Erwin ihn besucht, in seinem Wohnzimmer. Ein mehr als merkwürdiger Raum, eine Mischung aus deutschem Rittersaal mit einem orientalisch anmutenden Diwan in hinteren Teil des Raums. Erwin läuft an einem überdimensionierten altdeutschen Esstisch aus dunkler schwerer Eiche vorbei, um den sechs schwere Stühle mit hohen Lehnen stehen.
Hier riecht es nicht nur nach kaltem Rauch, sondern auch nach altem Mann.
Hermann Steinhoff liegt auf dem mit Teppichen und Decken bedeckten Diwan, auf einem flachen Tisch daneben steht ein übervoller Aschenbecher und ein leerer Cognacschwenker. Zu Steinhoffs Füßen hat sich sein alter Schäferhund ausgebreitet, ein Riesenvieh, das auf den schönen Namen Bübchen hört. Heute wirkt er handzahm, aber Erwin kann sich noch gut an die Tage erinnern, als Hermann Steinhoff immer wieder wegen diverser Attacken seines Hundes auf Dunkelhäutige von der Polizei einbestellt wurde. »Kann ich doch nichts dafür, dass der Hund bestimmte Ausländer nicht leiden kann, ist halt ein deutscher Schäferhund und kein Pudel.«
Der Alte greift in die