Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders
nicht eine Privatnummer rausgeben, die ich mal im Vertrauen bekommen habe. Okay, weil du es bist. Ich tue es für die deutsch-türkische Freundschaft. Hier liegt mein Handy, ich geh eben mal pinkeln. Kann ich was dafür, wenn du mein Handy filzt?«
Mitch strahlt Enis an, wartet ein paar Sekunden, öffnet die Kontakte, kopiert den Eintrag Canan Aydin auf sein Handy. Als Enis zurückkommt, schaut er Mitch an, schüttelt dann den Kopf. »Du bist echt ein Freak, ich habe schon Typen erlebt, die sich hier in eine Nutte verlieben oder in eine Fixerin, die sie retten wollen. Aber du bist der erste, der die Mordkommission bespaßen will. Du spinnst. Okay, ich habe dich gewarnt!«
Dann wird er ernst. »Ist dir aufgefallen, dass schon wieder der Name Benno Stiller gefallen ist? Der Mann drängt mit Macht in unsere Geschichte.«
Mitch nickt. »Ich rufe ihn an.«
Er würde jetzt am liebsten nach Hause gehen, um ungestört ein paar Artikel über die Frankfurter Mordkommission und Frau Canan Aydin zu lesen, aber Enis besteht darauf, die Tour durchs Viertel fortzusetzen.
Er führt Mitch zurück auf die Münchener Straße und steuert das Moseleck an, eine legendäre Eckkneipe, die längst unter Denkmalschutz stehen müsste.
»Ich muss dir mal was original Deutsches zeigen.«
Im Moseleck haben sich Generationen von Gästen mit Bier und Korn über den Verlust ihrer großen Liebe getröstet und mit Bacardi-Cola auf ein neues Leben angestoßen. Und hier wurden und werden die Spiele der Eintracht zelebriert. Die verrauchten Wände sind mit Memorabilien geschmückt, Frankfurter Fußballlegenden wie Grabowski, Hölzenbein und Yeboah hängen dicht an dicht nebeneinander. Der stämmige, ausgiebig tätowierte Mann hinter der Bar knallt kommentarlos zwei Pils auf den Tresen und widmet sich dann wieder einem aufgeregten Stammgast, der gestern Abend augenscheinlich die Frau seines Lebens kennengelernt hat, sich jetzt aber nicht mehr sicher ist, ob es sich bei der Angebeteten tatsächlich um eine Frau handelt. Mitch betrachtet gerührt die Fotos der Eintracht-Ikonen, zeigt auf Tony Yeboah, blickt dann zu Enis. »Weißt du, dass die Eintracht kein Spiel verloren hat, in dem Uwe Bein und Yeboah zusammen auf dem Platz standen?«
Enis nickt nicht sehr überzeugt. »War ein bisschen vor meiner Zeit.«
Dann kramt Enis in seiner Tasche, fischt sein Handy heraus, hält Mitch ein Bild der berühmten Nordwestkurve des Waldstadions unter die Nase. Ein wildes Fahnenmeer, Transparente, gereckte Fäuste, vom Jubeln verzerrte Gesichter.
»Sieht gut aus wie immer«, murmelt Mitch, »aber was willst du mir jetzt damit sagen?«
Enis vergrößert das Bild, zoomt ein Transparent groß raus. »Lies mal«, fordert er Mitch auf.
»Vallah, Beuth ist haram«, liest Mitch. »Ist mir unklar, was uns die Jungs damit erzählen wollen. Von den drei Wörtern sagt mir nur Beuth was, das ist doch unser Innenministerdarsteller aus Wiesbaden, der den Ultras eine super Choreographie kaputtgemacht hat, weil er vor einem echt wichtigen Spiel unbedingt das Stadion nach Pyros durchsuchen lassen musste. Der Rest sagt mir nichts.«
Enis grinst. »Das ist gelungene Integration, Mitch, Vallah ist arabisch und türkisch und bedeutet: bei Gott. Und haram ist das Gegenteil von halal, also unrein, verboten. Es heißt also: Bei Gott, Beuth ist unrein. In der wildesten Ecke der Eintrachtfans hast du demnach Leute, die genauso gut hätten schreiben können, Beuth ist ein Arsch, aber sie zeigen, wo sie herkommen, zeigen ihre Religion. Und was das Beste ist, sie wissen genau, dass auch die deutschen Jungs, mit denen sie in der Kurve stehen, verstehen, was das Transparent sagt, weil sie selber längst solche Worte in ihre Sprache übernommen haben. Das ist die Leitkultur des Waldstadions. Das macht mir Mut. Dagegen ist viel Multikulti-Gesülze reine Oberfläche, kommt von Leuten, die viel zu privilegiert sind, um zu wissen, dass Multikulti auch stressig sein kann. Wenn es mal krachen sollte in der Stadt, wenn ne richtige Krise kommen sollte, würde ich mich auf die Jungs im Stadion verlassen, die gehen sich nicht gegenseitig an die Gurgel.«
Mitch lacht. »Vallah, Enis, die Eintracht ist halal.«
4
Es gibt einen Teil des Viertels, da scheinen die Veränderungen noch weit weg zu sein. Hier macht niemand Party, hier wird ernsthaft Geld verdient, und das heißt in dieser Gegend: Hier wird gevögelt und gedealt. Ein Block voller Laufhäuser, alles wirkt leicht vergammelt, alles hat schon bessere Zeiten gesehen. Gerade an heißen Sommertagen wie jetzt wirken die Gesichter der Frauen noch leerer, noch angestrengter. Freudlose Freudenhäuser, vollgestopft mit Damen aus aller Herren Länder, die auf ihre genauso freudlosen Freier warten. Nichts atmet mehr den scheinbaren Luxus der alten Etablissements, selbst ein Laden wie die Sauna 2000 war ein glitzernder Tempel der Lust im Vergleich zu den heutigen Legebatterien der Prostitution.
Erwin, die Nase immer noch ein wenig blutverschmiert, läuft achtlos an den Laufhäusern vorbei, die schreiende Reklame für Peepshows und Tabledance bemerkt er nicht. Er passiert jetzt einen städtischen Druckraum, vor dem Trauben von Crack- und Chrystal-Meth-Usern auf Nachschub hoffen. Manchmal kommen hier auch tagsüber Anzüge aus den umliegenden Hochhäusern vorbei und setzen sich in der Mittagspause einen cleanen Schuss Heroin. Jetzt aber, gegen Abend, ist hier nur noch der harte Kern zugange, Langzeit-Junkies, viele von ihnen konsumieren die merkwürdigsten Drogencocktails, fertige Gestalten, die nie wieder den Weg in ein Leben ohne Drogen finden werden.
In dieser Ecke des Viertels hat Erwin das große Los gezogen und eine bezahlbare kleine Dachwohnung gefunden. Die Miete verdient er sich durch Gelegenheitsjobs für den alten Steinhoff. Er keucht beim Treppensteigen, der Weg auf ausgetretenen Holzdielen in den fünften Stock zieht sich.
Erwin öffnet mühsam die Tür, hier sind zwei Schlösser das Minimum, und steht dann in einem düsteren Flur, von dem aus zwei Türen abgehen, eine in die Wohnküche, die andere in sein Schlafzimmer. Als Erstes öffnet Erwin ein kleines Fenster in der Küche, in der Ferne sieht er die Nordseite des Hauptbahnhofs.
Auf dem Boden steht eine ansehnliche Flaschenbatterie, in der Spüle warten Geschirr und Tassen darauf, bald gesäubert zu werden. Ganz im Gegensatz zu diesem Chaos steht die Ordnung auf einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raums. Links neben dem Schreibtisch hängt ein leicht schiefes Regalbrett, auf dem etwa fünfzehn abgewetzte Kladden stehen. Die Wand, auf die der Benutzer des Schreibtischs blickt, ist über und über mit Zeitungsartikeln beklebt. Es sind meistens Titelseiten der BILD mit Artikeln über Verbrechen von Flüchtlingen. »Wieder eine Vergewaltigung in Freiburg«, schreit eine Schlagzeile, links daneben ein Titelblatt mit dem Foto des teilnahmslosen Gesichts von Ali Bashar, dem Mörder der vierzehnjährigen Susanna in Mainz. »Polizei versagt, Behörden versagen«, heißt hier die Überschrift. In die Nasenwurzel des jungen Irakers hat jemand einen Dartpfeil gebohrt. Daneben ein stimmungsvolles Foto aus der FAZ, ein auf der Straße liegendes Foto des zarten Gesichts von Susanna, umrandet von verwelkten Blumen.
Der Schreibtisch ist leer – bis auf einen schwarzen Kugelschreiber und eine schwarzweiß gemusterte Kladde. In das weiße Fenster auf der Vorderseite der Kladde ist mit einem dicken Filzstift die Nummer 15 vermerkt.
Erwin öffnet den uralten Kühlschrank und holt eine kalte Dose Bier heraus. Er trinkt die Hälfte des Inhalts auf einen Zug, stöhnt wohlig, zieht sein Hemd aus, geht in das winzige Badezimmer und betrachtet seine geschwollene Nase. Er hält die kalte Dose gegen die Schwellung und spürt Erleichterung. Er kippt den Rest der Dose ab, holt sich eine neue aus dem Kühlschrank, flucht, weil nur noch drei Dosen da sind. Er wird noch mal runter müssen.
Aus einem sehr klapprig wirkenden Schrank im Schlafzimmer holt er sich ein frisches T-Shirt. Das gebrauchte Hemd wirft er achtlos auf das nicht gemachte Bett, dessen Wäsche dringend gewechselt werden müsste. Das Zimmer riecht muffig, Erwin öffnet das schmale Fenster. Über dem Bett hängt ein altes Filmplakat, eine Rarität, das Original Taxi-Driver-Plakat aus den USA. Robert de Niro, die Hände tief in den Taschen seiner Windjacke, läuft mit hochgezogenen Schultern über einen Zebrastreifen in New York, im Hintergrund wirbt ein Billboard für Adult Movies XXX. De Niro als Taxi Driver, der den Dreck der Großstadt nicht mehr aushält, der seinen Körper stählt und sich mit Waffen eindeckt, um das Böse zu erledigen, dominiert Erwins