Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders

Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders


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nimmt den Kugelschreiber und beginnt sorgfältig zu schreiben.

      Heute ist es wieder passiert, zwei arabische Schläger haben mich grundlos auf einer Straße meiner Heimatstadt niedergeschlagen, und es gab niemand, der auch nur versucht hätte, mir zu helfen. Alles, weil ich einer Alten das Kopftuch weggehauen habe. So weit sind wir schon gekommen. Vor wenigen Jahren noch hätte sich ein deutscher Türsteher eingemischt und den Arabern eine aufs Maul gehauen. Wo leben wir eigentlich, was für ein Land erlaubt Zugezogenen, die eigene Bevölkerung zu belästigen? Billige Arbeiter aus den Hungerleider-Ländern strömen zu uns, wir Einheimische werden Jobs, Wohnungen und Frauen verlieren. Wir müssen uns wehren, aber wie?

      Abrupt steht er auf, holt das vorletzte Bier aus dem Kühlschrank. Wieder geht er ins Bad, wieder drückt er die kalte Dose gegen seine lädierte Nase.

      Dann betrachtet er sich in dem matten Spiegel. Was er sieht, gefällt ihm nicht, er wirkt magenkrank, ausgezehrt, mit einer ungesunden Blässe im Gesicht. Seine schütteren Haare sind schwarz gefärbt, ölig zurückgekämmt, vorne zeigt er eine deutliche Stirnglatze. Seine messingfarbene Brille ist ein billiges Kassengestell. Hinter der Brille tieftraurige Augen, die nach innen blicken und dort nur Leere sehen.

      Ein Gesicht, geformt aus jahrelanger Einsamkeit.

      Erwin leert die Dose, wirft sie achtlos Richtung Papierkorb, sie scheppert über den Küchenboden. Er setzt sich wieder an den Schreibtisch, schließt die Kladde Nr. 15 und angelt dann aus dem Regal die Kladde mit der Nummer 1. Er öffnet sie vorsichtig, beginnt dann leise murmelnd zu lesen.

      Vater und Mutter.

      Er hat einfach nicht mit mir geredet.

      Er hat kein einziges Wort herausgebracht, aber sein Gesicht ist ein einziger Vorwurf. Wieder habe ich es geschafft, den Vater zu enttäuschen, und wieder weiß ich nicht einmal, womit.

      Er hat getrunken, der Vater. Ich weiß, was dann passieren kann, erst wird er weinerlich und dann holt er den braunen Ledergürtel hervor, wickelt ihn sich um die rechte Hand, tritt krachend gegen die Tür zum ehelichen Schlafzimmer.

      Mutter wird zusammenzucken, die Angst wird ihr die Kehle zudrücken, aber sie wird schweigen und sie wird sich für das Schweigen hassen.

      Kein Laut wird aus dem Schlafzimmer kommen.

      Dann wird er gegen die Tür zu meinem Kinderzimmer treten und mit dem schweren braunen Gürtel immer wieder zuschlagen. Es zischt in der Luft, kurz bevor der Gürtel trifft.

      Der nächste Tag wird schlimmer sein, dann wird er weinerlich, kommt und entschuldigt sich. Und macht mir damit meinen Zorn kaputt, denn natürlich muss ich ihm verzeihen. Täglich erzählt er mir, welch sagenhafte Zukunft vor mir liegt. Er wird sie mir ermöglichen, er wird sich krumm arbeiten. Ich soll gefälligst dankbarer sein. Ich könnte mich verdammt noch mal doch etwas mehr freuen. Schwer, sich zu freuen, in meiner Welt freut sich eigentlich niemand. Wie soll ich wissen, wie Freude geht? Ich weiß, wie Ordnung geht. Ich weiß, wie Fleiß geht.

      Aber Freude?

      Meine Mutter freut sich nie. Manchmal ein wenig, wenn wir alleine sind, wenn der Vater mal zwei Tage wegmuss. Dann sitzen wir mittags an dem kleinen Küchentisch mit der rot-weiß karierten Tischdecke und essen Spiegeleier und Bratkartoffeln. Dann fühle ich mich glücklich. Kommt leider selten vor, dass der Vater wegmuss, er ist kleiner Angestellter bei der Stadt, eine Art Hausmeister. Er macht ein Geheimnis drum. Einmal habe ich ihn überrascht und bin auf seiner Arbeit erschienen. Ich sah, dass er einen grauen Kittel trug, und bekam am Abend fürchterliche Dresche.

      Mutter erzählte er manchmal, dass er fast täglich den Bürgermeister sieht und dass Politik vielleicht etwas für mich sein könnte. Wenn ich mich nur anstrengen würde, dann könnte ich vielleicht Bürgermeister werden. Man darf ja mal träumen, sagt er dann, und auf jeden Fall kann der Junge Amtmann oder sogar Oberamtmann werden.

      Wenn er doch nur etwas lebhafter und etwas dankbarer wäre.

      Mutter ist in letzter Zeit häufig abwesend, nein, sie ist da, aber sie scheint zu träumen. Sie meint dann, lass mich, ich bin müde, lass mich doch ein bisschen träumen. Aber ich muss sie wecken, spätestens eine Stunde, bevor der Vater kommt, sonst schafft sie es nicht, das Essen auf den Tisch zu kriegen. Der Vater will warm essen, wenn er nach Hause kommt. Sein Bier muss kalt sein und das Essen warm.

      Erwin schließt die Kladde, kippt die letzte Dose in sich rein, steht auf, wankt in sein Schlafzimmer und legt sich mit allen Klamotten am Leib auf die zerwühlte Bettdecke. »So war es und so ist es«, murmelt er, »Bürgermeister, du Arschloch. Mutter hast du in die Klapse geschickt und mich hier in diese Bruchbude. Danke, Papa.«

      Mitch hat sich gegen 21 Uhr von Enis verabschiedet, er will nach Hause. Dann ist er aber doch noch am Yok-Yok-Kiosk hängen geblieben, einem schlichten Laden, der in den letzten Jahren Kultstatus bekommen hat. Bei halbwegs passablem Wetter versammeln sich hier locker bis zu hundert junge Leute und bohren im Stehen Bier aus der Flasche ab. Das Yok Yok hat den Charme eines Getränkesupermarktes, egal, alle sind wild darauf, ihr Bier genau hier zu kaufen. Mitch trinkt eine schnelle Flasche, betrachtet ein wenig amüsiert, wie ein frisch gegelter Nachwuchsbanker eine eher alternativ aussehende junge Frau intensiv beflirtet. Mitch lächelt wehmütig. »Gibt nichts Schöneres, ein heißer Sommerabend, zwei junge Leute, die sich gefallen. Wo werdet ihr heute Nacht noch landen? Viel Spaß jedenfalls.«

      Er trinkt aus und macht sich auf den Weg. Am Theaterplatz bleibt er hängen, beobachtet die Kunststücke eines Jongleurs. Er wirft ihm 50 Cent in den Hut, setzt sich noch einen Moment auf eine Parkbank, beobachtet das Gewusel auf dem Platz und stöbert dann in seinem Handy.

      Bei CNN stößt er auf einen Artikel über Identitätspolitik, in dem von einem Mann namens Alexandre Bissonnette aus Quebec die Rede ist. Nachdem sein Premierminister Trudeau eine Willkommensbotschaft an Flüchtlinge gerichtet hatte, konterte er auf Twitter mit einem Hassausbruch, schrieb von der drohenden Marginalisierung der Weißen im eigenen Land. Einen Tag später tötete er sechs Muslime in der Moschee von Quebec City.

      Trudeau wollte sich von Trump absetzen, Monsieur Bissonnette hingegen nahm Trump wörtlich. Politiker wie Trump, Le Pen, Salvini teilen die Welt in »die« und »wir« ein. Islamisten spielen auf derselben Klaviatur. Mit Appellen an Identität, an Heimat, an Traditionen wird von grundlegenden sozialen Problemen abgelenkt. Und der immer wieder an die Wand gemalte unausweichliche Krieg der Rassen und Religionen bringt Einzelne dazu, Ängste in Wut und Worte in Taten zu verwandeln.

      In der U-Bahn denkt Mitch an Mehmet, den türkischen Fischhändler, und seine Klagen über die marokkanischen Dealer am Bahnhof. Mitch grinst, als er sich an Mehmets Erregung erinnert. In einer öffentlich-rechtlichen Talkshow hätte Mehmet damit wilde Empörung bei allen Gutmenschen ausgelöst. »Wir tun uns manchmal verdammt schwer, einfache Wahrheiten auszusprechen, und machen uns genau damit das Leben erst richtig schwer. Eigentlich ist doch alles ganz einfach. Für alle gelten die gleichen Gesetze. Punkt und Ende. Wer darauf besteht, die religiösen Gebote der Scharia höher zu hängen als die deutsche Verfassung, soll bitte in Saudi Arabien um Asyl bitten. Und wer einen völkischen Staat aufbauen will, der ist ein Fall für Polizei und Staatsanwalt.«

      Nun ja, denkt Mitch, so einfach laufen die Dinge in Deutschland nicht – sie sind viel komplizierter.

      Er steigt aus und läuft durch sein vertrautes Nordend, dessen Straßen ihm plötzlich merkwürdig ruhig und sauber vorkommen. Alles ist aufgeräumter als am Bahnhof, konfliktloser, friedlicher, ein Areal der Wohlhabenden. »Der richtige Stadtteil für einen alten weißen Mann«, denkt Mitch und grinst. Er läuft an der Villa Lauda vorbei, wo er sich manchmal mit bestem italienischen Essen verwöhnen lässt. Mario und Francesco stehen auf der Straße begrüßen ihn: »Hey Mitch, wo kommst du her?«

      »Aus dem Bahnhofsviertel«, antwortet er und erntet anzügliches Gelächter. »Bleib sauber, Junge.«

      Und schon gefällt ihm sein Viertel wieder. Ein paar Schritte weiter versammeln sich einige Bekannte an der Bar des Casa Pintor, und Mitch beschließt, sich noch einen Rioja zu gönnen. Nach nur einem Glas aber steht er, ganz gegen seine üblichen Gewohnheiten, abrupt


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