Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders
»ist ein Kumpel von Benno. Du hast ja wirklich keine Ahnung.«
Beide schweigen einen Moment. Dann funkelt Erwin Mitch an. »Sag mal, du Journalist, wo wohnst du eigentlich?«
»Was spielt das für eine Rolle? Im Nordend.«
Erwin stößt ein höhnisches Gelächter aus. »Wusste ich doch. Da leben doch alle, die uns hier sagen, wie wir denken sollen. Da wohnt kein Araber, da wohnt kein Schwarzer, ist leicht, da ein guter Mensch zu sein. Ich kenne viele von denen, auch wenn du mir nicht glaubst, ich war ja mal auf der Uni. Aber wenn ich heute einen meiner Freunde von damals treffe, dann kennt der mich nicht, dann geht der auf die andere Straßenseite. So ist das mit den Reichen, keine Ahnung haben, aber arrogant. Du hast noch nie von einem schwarzen Dealer aufs Maul gekriegt, dir hat noch nie ein Araber erzählt, dass er dich absticht, wenn du noch mal seine Frau anschaust.«
Mitch staunt über Erwins Ausbruch, aber er ärgert sich auch über dessen Tiraden. »Weißt du, wie du klingst, Erwin? Wie der beschissene Rentner, der neulich in Wächtersbach, nachdem er zwei Bier getrunken hat, einfach mal so beschlossen hat, in der Mittagspause einen Afrikaner umzulegen. Und das hat er auch fast geschafft. Mann, aus dir tönt doch nur Wut. Du könntest bei Pegida auftreten. Die würden dir zujubeln. Aber deine Wut hat ja gar nichts mit irgendwelchen Arabern oder Schwarzen zu tun, das weißt du doch auch. Ich bin mir sicher, du warst schon wütend, bevor Angela Merkel die Tür aufgemacht hat.«
Erwin blickt Mitch an, plötzlich wie abwesend. Dann schüttelt er den Kopf. »Du hast echt keine Ahnung. Darf in deiner Story ein Deutscher vorkommen?«
»Aber hallo, ja doch. Ich hoffe, mehr als einer.«
»Dann komm mit, ich will dir was geben. Schreib über mich. Vielleicht bist du ja wirklich ein ehrlicher Kerl.«
»Wohin soll ich mitkommen?«
»Zu mir, ist gerade hier um die Ecke.«
Mitch überlegt kurz, dann zahlt er, steht auf und folgt Erwin, der zielstrebig die nächste Querstraße ansteuert.
Sie keuchen fünf Stockwerke nach oben, Erwin öffnet die zwei Türschlösser, und Mitch betritt Erwins völlig unaufgeräumte Küche.
»Hallo, das sieht ja fast wie bei mir aus.«
Mitchs Blick fällt auf Erwins Schreibtisch und die Pinnwand darüber und bleibt auf einer rausgerissenen Seite der BILD mit einem Foto des Wiesbadener Mörders Ali Bashar hängen. »Mann, häng dir doch nicht so einen beschissenen Killer in deine Wohnung, das macht Alpträume und schlechtes Karma.«
Dann blickt er in Erwins Schlafzimmer, zeigt auf das Taxi-Driver-Plakat. »Wow, du hast das Originalplakat! Geiler Film, aber komm bloß nicht auf die Idee, die Nummer nachzumachen. De Niro war deutlich fitter als du. Da würdest du nicht weit kommen.«
»Reg dich ab! Ich habe noch nie in meinem Leben eine Knarre angefasst, ich würde auch nie in der Mittagspause nach Wächtersbach fahren.«
Mitch zeigt auf de Niro. »Aber du träumst davon?«
»Träumst du nicht?«
Dann winkt Erwin Mitch in die Küche. Er zeigt auf das Regal mit den Kladden. »Hier, die leihe ich dir, mein Leben, meine Tagebücher. Erzähl meine Geschichte, aber sei fair. Hier sind die Bücher, Nummer 1 bis 14. Mach was draus, wenn du ein richtiger Journalist bist.«
Mitch blickt Erwin überrascht an, ist überwältigt von dem völlig unerwarteten Angebot. Er kramt in seiner Tasche, fischt eine Visitenkarte aus seinem Geldbeutel, reicht sie Erwin. »Mann, jetzt bin ich sprachlos, ich danke dir. Wenn du es dir anders überlegst, ruf an, ich bin mobil fast immer erreichbar.«
Ibrahim hat sich sorgfältig angezogen, sein Kaftan ist makellos weiß, statt der üblichen farbigen Sneakers trägt er dunkle Lederschuhe. Er hat heute einen großen Auftritt. Er ist von einer größeren Moschee eingeladen worden, vor jüngeren Gläubigen zu sprechen. Die Einladung ist eine Anerkennung. In der muslimischen Community beginnt man, ihn als Prediger zu akzeptieren. Auch Enis, der von dieser Einladung erfahren hat, ist unter den Zuhörern. Zum ersten Mal sieht er jetzt den angeblich neuen Star der Salafistenszene.
Ibrahim wird umringt von der kleinen Schar seiner Anhänger, seine Gedanken aber sind plötzlich zurück in der Heimat. Er erinnert sich an seine Angst, als ihn der Onkel in die Schule der Ungläubigen brachte. Er war damals noch fast stumm, tief geschockt vom Tod seiner Eltern. »Du musst viel lernen«, hatte ihm der Onkel gesagt. »Du wirst deine Eltern rächen eines Tages, aber dafür musst du viel lernen. Denn die Mörder deiner Eltern sind mächtige Männer. Um sie zu besiegen, musst du lernen, und lernen kannst du am besten hier bei den Ungläubigen. Allah wird dich beschützen. Du sollst ihre Sprache lernen und ihre Technik, aber nicht ihre falsche Religion. Allah wird dich schützen, mein Kleiner.« Dann ging der Onkel, und Ibrahim blieb zurück in einer ihm völlig fremden Welt. Aber er tat genau das, was man ihm gesagt hatte, er war fleißig, er war stumm, und nachts plagten ihn Albträume.
Ibrahim schüttelt die Gedanken ab, reckt sich und reagiert mit Ehrerbietung, als ein älterer Herr vortritt, ihn ausgesucht höflich begrüßt und ihn bittet, das Wort an die Jugend zu richten.
Gut sechzig Personen sind versammelt, die überwiegende Mehrheit junge Männer. Ibrahim weiß, dass er hier ganz anders auftreten muss als in der kleinen Garagenmoschee. Kein Wort über den Jihad, kein Wort über die Vernichtung des Westens.
»Verehrte Muslime! In Seiner Barmherzigkeit zeigt uns Allah, wer unser Freund und wer unser Feind ist. Im Koran heißt es: Satan ist wirklich euer Feind. So betrachtet ihn auch als Feind. In der heutigen Zeit und vor allem hier in den westlichen Ländern ist es leider manchmal nicht so leicht, den Satan zu erkennen. Er kann sich verkleiden, er kann verführerisch daherkommen. Er kann lange blonde Haare haben und eine schöne Frau sein. Ein Freund von mir kam eines Tages zu mir und beklagte sich bitterlich über seinen Vater. Er hatte seinem Vater gestanden, dass er sich in eine deutsche Frau verliebt hatte und sie heiraten wollte. Der Vater war außer sich, fragte den Sohn, ob er seine Kinder mit Schweinefleisch und Weihnachtsbäumen aufziehen wolle. Der Vater verfluchte seinen Sohn, und der suchte jetzt meinen Rat.«
Ibrahim macht eine längere Pause, um so die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu steigern. »Bruder, was ist los mit dir, habe ich ihn gefragt. Du solltest dir keine Gedanken machen, was dein Vater zu einer deutschen Freundin sagt, du solltest dich lieber fragen, was Allah davon hält. Wir haben so oft zusammen gebetet, und jetzt willst du eine Frau heiraten, ohne dich zu fragen, ob sie dich näher zum Paradies bringt? Mein Freund begann zu zetern, betonte wieder und wieder, wie sehr er diese Frau lieben würde. Ich erinnerte ihn daran, dass Liebe und Sexualität Waffen des Teufels sein können. Liebe ist vergänglich, erst im Paradies wirst du wirkliche Liebe finden. Für immer. Du wirst zweiundsiebzig Jungfrauen genießen, wirst glücklich sein. Hier auf Erden aber musst du eine Frau finden, die dich näher zu Gott bringt, eine, die nicht fremdgeht, eine, die nicht ihre Reize zur Schau stellt. Eine Frau, die es verdient, die Mutter deiner Söhne zu sein. Ich habe meinem Freund nicht geraten, die Deutsche aufzugeben, aber ich habe ihm geraten, sie mit in die Moschee zu bringen, wo die Schwestern schon wissen, wie sie mit ihr reden müssen. Auch eine Deutsche kann eine gute Ehefrau werden, aber nur wenn sie erkennt, dass der Islam der Weg ist. Es ist egal, aus welchem Land du kommst, es geht um Glauben, es geht um Gott. Bring sie mit, die Schwestern werden mit ihr reden.«
Langsam führt Ibrahim seine Rede zu Ende. Er spürt intensiv, dass er den Respekt der Älteren durch eine sanfte mahnende Rede gewonnen hat und dass er die Jungen gepackt hat, weil er ein Thema gewählt hat, das ihnen unter den Nägeln brennt.
Enis versucht, nach dessen Rede in Ibrahims Nähe zu kommen, der aber wird von seinen Anhängern abgeschirmt. Im Kreis der jugendlichen Fans sieht er jedoch einen jungen Türken, dessen verstorbenen Vater Enis gut gekannt hat. Er meint sich an den Namen des Jungen zu erinnern: Ahmed. Ibrahim verlässt mit seinem Gefolge die Halle.
Enis ist zufrieden, er weiß jetzt, wie er an Ibrahim herankommen kann.
Benno Stiller hat heute unverschämt gute Laune.
Den Besuch der Kommissarin hat er abgehakt, er hat