Lass Gott aus dem Spiel. Harald Lüders

Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders


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sein. Hatte er damit ins Schwarze getroffen? Auf jeden Fall sind diese Tagebücher ein Schatz. Hofft er zumindest. »Verdammt, kann natürlich auch sein, dass da einfach lauter Alkoholprosa drinsteht«, murmelt er, als er ins Taxi steigt.

      In seiner Wohnung angekommen, macht er sich einen Espresso, wirft die Kladden auf seinen Schreibtisch und beginnt zu blättern. Mitch greift ohne besonderen Grund zur Kladde Nummer 6 und beginnt zu lesen.

      Ich fühle mich verloren an der Uni. Niemand sagt mir, wohin, wann, was und warum. Ich lasse mich in den langen Gängen treiben, immer mit einem leichten Gefühl von Abwesenheit. Ich habe das Gefühl, in dem ganzen Studentengewusel immer kleiner und stummer zu werden. Ich werde nicht mehr in die Mensa gehen, unerträglich die Cliquen, die da glücklich kichernd an einem Tisch sitzen. Ich starre vor mich hin, bin so in mir selbst versunken, dass, wenn sich tatsächlich mal jemand neben mich setzen möchte, ich auf die Frage, ob der Platz frei ist, mit einem sinnlosen Stottern antworte.

      Ich denke noch häufig an die Nacht nach der fürchterlichen Feier, aber nicht an die demütigenden Witze. Das Schönste war die unendliche Erleichterung in meinem Kopf, als ich die Frontscheibe des Porsches zum Platzen gebracht habe. Ich habe losgelacht und dann wie ein Irrer gegen das Auto getreten, immer, immer wieder. Erst mit der Zeit kam die Angst, entdeckt zu werden, und ich rannte um mein Leben. Aber auch diese Flucht war voller Glück. Ich ließ mich erschöpft auf eine Bank fallen. Wie leicht es war, diese Scheibe einzuschlagen! Wäre es denn genauso leicht, dem Alten eine Flasche über den Schädel zu ziehen?

      Dann wankte ich nach Hause in unsere Siedlung am Rand von Frankfurt. Ich öffnete ganz leise die Wohnungstür, auf keinen Fall wollte ich die Eltern wecken. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel meines Vaters, der mir empfahl, das Studium sofort zu beenden, er habe eine tolle Stellung bei der Stadt für mich im Auge. Eine unvergesslich lange Sekunde spürte ich ganz klar den Entschluss in mir, ihn auf der Stelle zu erschlagen. Dann sah ich ein Licht angehen im elterlichen Schlafzimmer, ich sprang angezogen in mein Bett, löschte das Licht, und als sich knarrend die Tür meines Zimmers einen Spalt öffnete, stellte ich mich schlafend. Ich hörte den Vater atmen, dann schloss er die Tür. Ich weinte in mein Kissen und spürte genau, ich würde es nie schaffen, die Hand gegen ihn zu erheben.

      Verflucht, Mitch merkt, dass er sich in dem Text verliert. Er fühlt plötzlich Mitleid mit Erwin. Was für ein todtrauriges Leben. Mitch denkt laut vor sich hin: »Kein Wunder, dass der Mann voller Hass und Wut steckt, was für eine Scheißjugend. Was aber auch heißt, dass Erwin jederzeit explodieren kann. Wie diese Typen, die sich plötzlich bis aufs Blut prügeln, weil ihnen jemand den Parkplatz weggenommen hat. Wenn ein Kerl immer das Gefühl hat, benachteiligt zu sein, nicht ernst genommen zu werden, dann können bei dem plötzlich ohne großen Anlass alle Sicherungen durchbrennen. Niemand kann so eine Aggression auf ewig wegdrücken!«

      Mitch ist aufgesprungen, läuft in seiner Küche auf und ab und murmelt: »Also entweder hat Erwin Krebs, weil er all die Scheiße immer geschluckt hat, oder er läuft demnächst Amok im Viertel und ballert Flüchtlinge ab.«

      Mitch schüttelt sich, gießt sich ein kleines Glas Rotwein ein, greift wieder nach den Kladden, nimmt die Kladde 10.

      Zum ersten Mal seit vielen Jahren schreibe ich wieder in dieses Buch. Längst bin ich zu Hause ausgezogen, lebe in einer kleinen Butze im Gallus. Die Uni ist Geschichte. Ich verdiene Geld als Taxifahrer, fahre häufig nachts, habe das Bahnhofsviertel schätzen gelernt. Wenn es mich überkommt, ziehe ich durch die Laufhäuser, ansonsten sitze ich mit anderen Fahrern beim Griechen oder ähnlichen Nachtkneipen in der Moselstraße, esse Döner und trinke Bier. Mein Studentenleben ist längst vorbei, der Traum, ein Recht auf Glück zu haben, ist ausgeträumt. Ich muss aufpassen, ich trinke viel, habe beim Fahren immer eine Flasche Wodka im Auto. Vor zwei Wochen hatte ich einen Albaner auf dem Beifahrersitz. Normalerweise sitzen die Gäste bei mir hinten, der Typ aber wollte unbedingt nach vorne. Der Mistkerl hat die Wodkaflasche gesehen, und als es ans Zahlen ging, lachte er nur, meinte, er würde nichts zahlen, aber die Bullen holen, ich würde besoffen fahren. Er stieg aus, zeigte mir den Stinkefinger und ging. Seitdem habe ich eine Abneigung gegen Ausländer. Es gibt eine Menge Typen, die sich in ein Taxi mit einem deutschen Fahrer setzen, nur um zu zeigen, dass sie die Kings mit Geld sind. Ich kenne sie alle: fette türkische Dealer, Jugo-Zuhälter, Goldkettchen aus Afrika, immer auf der Suche nach einer naiven Vorstadtschlampe, Typ Nagelstudio. Im Rückspiegel sehe ich sie mit ihren Hundertern spielen, manche nehmen ungeniert Koks oder Chrystal im Wagen. Einmal auf einer Fahrt nach Offenbach habe ich eine Vollbremsung gemacht, als sich ein Bimbo auf dem Rücksitz einen fetten Joint ansteckte und meine Karre verqualmte. Ich riss die Tür auf, brüllte ihn an, er solle aussteigen, und hatte im selben Moment eine knallharte Gerade im Gesicht. Er schrie, ich solle wieder einsteigen und die Finger vom Funk lassen. In der Nähe des Offenbacher Marktplatzes stieg er aus, und ich alarmierte ein paar Kollegen. Wir kontrollierten die Straßen, bekamen ihn aber nicht zu Gesicht. Dafür machten zwei Kollegen Jagd auf einen schmächtigen Eriträer, dem sie zwei Vorderzähne ausschlugen. Was läuft der auch nachts ziellos durch die Stadt.

      Mitch gießt sich noch einen Roten ein. Er fühlt sich schlecht und weiß doch, dass er den Abend lesend verbringen wird. Er wird die nächsten Stunden lernen müssen, Erwin auszuhalten. Nicht gerade leicht.

      Mitch macht sich Notizen, tippt immer wieder Anmerkungen in seinen Laptop. Erwin hat Lehrer studiert, hat sich einmal in eine linke Studentin verliebt und in der Folge mit den Linken sympathisiert. Die Beziehung hält nicht lange, auch einen Abschluss hat er nie geschafft. Erwin hat schon während der Uni jahrelang als Taxifahrer gejobbt. Er arbeitet nachts, beginnt heftig zu trinken. Rutscht ab, bekommt mit, dass viele seiner ehemaligen Freunde irgendwann die Kurve kriegen, Examen machen und langsam ein bürgerliches Leben beginnen. Er aber fährt weiter Taxi, trinkt.

      Immer wieder sieht und trifft er im kleinen Frankfurt Bekannte aus den Unitagen. Er hasst und verabscheut das klemmige Mitleid, das ihm bei solchen Begegnungen entgegenschlägt. Als es mit ihm weiter nach unten geht, wird aus Mitleid Wegsehen.

      Er baut betrunken einen Unfall, verliert den Job und die Taxilizenz. Er rutscht weiter ab, trinkt jetzt schon tagsüber am Wasserhäuschen. Dort passt er sich den Sprüchen seiner Trinkkumpane an, wandelt sich vollends zu einem Rechten.

      Mitch könnte kotzen. Was für eine deprimierende Geschichte. Aber er weiß auch, dass da draußen verdammt viele Erwins herumlaufen.

      Er steht auf, will auf andere Gedanken kommen, schaltet die Glotze an, sieht in der Tagesschau, wie US-Präsident Trump die überwiegend schwarze Stadt Baltimore als Rattenloch beschimpft. »Halt’s Maul, Donald, ich habe gerade deinen Wähler Erwin kennengelernt, mir reicht es für heute. Halt einfach die Klappe!«

      6

      Während sich Mitch zu Hause in Erwins Kladden vertieft, hat Benno Stiller seinen Arbeitstag am Telefon beendet. Er ist in seinen Panamera gestiegen und steuert jetzt die Frankfurter Innenstadt an. Benno hat noch nie ein Parkhaus angefahren, er parkt in der Fußgängerzone in der unmittelbaren Nähe des Eschenheimer Turms. Die Ansage ist klar. Gebt mir doch einen Knollen, ihr Penner, den zahl ich aus der Hosentasche. Benno freut sich auf Bill Costello, ein Treffen mit Bill hat immer was von einer guten Pokerparty. Ein Spiel, bei dem es keine Regeln gibt und man nie weiß, was genau der Einsatz ist. Man deutet an, was man so alles weiß. Ist der andere interessiert, wird ein Preis verhandelt. Mit Costello, einem Italoamerikaner, der seit Jahren in Deutschland lebt, kann man über Import-Export-Geschäfte aller Art reden. Bill kann Waffen besorgen, wenn es sein muss, auch einen Container voll. Natürlich nicht nach Frankfurt, aber in so ziemlich jedes Spannungsgebiet der Welt. Costello kokettiert mit seiner angeblichen Nähe zur CIA und erntet dafür großen Respekt.

      Benno Stiller betritt die schmucklose Lobby des Fleming’s Hotel und steuert sofort den Aufzug an. Die Bar im siebten Stock ist weder schick noch hat sie besondere Drinks, dafür aber bietet sie einen spektakulären Blick über die Frankfurter City.

      Benno ist kein Stammgast, aber sein energisches Auftreten verhilft ihm schnell zu einem der im Sommer begehrten Hochtische auf der Außenterrasse. Die sieben Stockwerke des Hotelgebäudes sind die ideale Höhe, um die gegenüberliegenden Bankentürme


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