Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann
während es endet, nicht endet.27
Der US-amerikanische Philosoph Samuel Scheffler hat sich 2012 im Rahmen der Tanner-Lectures zum Thema des nachtodlichen Lebens geäußert.28 Es geht ihm dabei ausdrücklich nicht um irgendeine Form des individuellen Fortlebens nach dem eigenen Tod; diese Vorstellung lehnt er sehr grundsätzlich ab. Das nachtodliche Leben – im englischen ist die Rede vom „Afterlife“ – bezieht sich vielmehr auf das Leben der zurückgebliebenen Wesen. Er schlägt dazu auch ein Gedankenexperiment vor: Was wäre, wenn wir die Gewissheit hätten, dass wenige Wochen nach unserem eigenen Tod die gesamte Menschheit durch eine Katastrophe ausgelöscht würde? Wie würden wir uns angesichts dieser unveränderbaren Tatsache innerhalb dieses Gedankenspiels verhalten? Scheffler will mit diesem Experiment vor allem eins zeigen: Es gibt etwas Schlimmeres als den individuellen Tod. Selbst wenn uns die Vernichtung der Menschheit gar nicht mehr zu eigenen Lebzeiten ereilen würde, hätte ein solches Ereignis unmittelbare Auswirkungen auf unser Selbstverständnis. Scheffler ist in seinem Argument vollkommen unverdächtig, eine neue Theologie etablieren zu wollen, aber er zeigt doch, dass es in gewissem Sinne einen säkularen Glauben an ein nachtodliches Leben gibt bzw. geben muss – die Hoffnung, die sich hierin zeigt, sind wieder einmal die Anderen. Scheffler zeigt mit diesem einfachen Beispiel, dass wir ohne die Anderen kein sinnvolles Leben führen können – wie wichtig ihr Überleben für uns ist. Ihr Tod, besonders im denkerischen Extremfall eines Aussterbens der gesamten Menschheit, ist hinsichtlich unserer Sinndimensionen, die der gelebten Gemeinschaft bedürfen, nahezu identisch mit dem eigenen Tod. Schefflers Beobachtungen stehen quer zu einem kulturellen Mainstream, in dem die individuelle Selbstverwirklichung in weiten Teilen noch immer darin besteht, sich gegen die eigene Sterblichkeit nach Kräften abzusichern und so unter der Hand das Tote zu kultivieren. Er legt hingegen nahe, dass die eigene Lebendigkeit, das Erlebnis wirklich am Leben und lebendig zu sein, wesentlich mehr vom Leben und der Lebendigkeit der anderen Wesen abhängt, als wir oft glauben. Der Neutestamentler Fridolin Stier, in dessen tagebuchartigen Aufzeichnungen sich immer wieder neue Verbindungen zwischen den Themen des Sterbens und der Tiere auftun, schreibt in seinem Eintrag vom 2. Januar 1972:
„Ich kann […] sehr gut ohne alle Unruhe bei mir denken, wenn ich tot bin, so ist es aus. Das bekümmert mich wenig, aber unendlich, wenn ich denke, dass es nun auch mit allen, die ich liebe, so sein soll. Das geht nicht, heißt es dann in mir …“29
Und warum sollte Ähnliches nicht auch für die Tiere gelten? Das Beispiel aus der theologischen Tradition hat bereits darauf verwiesen, dass uns ein Himmel, der mit Ausnahme der Menschen von allem sonstigen Lebendigen wie leergefegt ist, nur noch wenig verheißungsvoll erscheint. Man muss aber nicht – um ein unschönes Wort dafür zu verwenden – „gläubig“ sein, um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, schließlich kündet bereits das zunehmende Verschwinden und Aussterben der Tiere von einem ähnlichen Verlustgefühl. Die Frage ist nicht nur, ob wir ohne die Tiere weiterleben wollen – sondern auch, ob wir es überhaupt können. Was Scheffler und Stier verbindet, ist die sicher sehr wahre Einsicht, dass uns stets nur die Lebendigkeit der anderen rettet.
In das Leben hineinsterben
Sterben bedeutet, das Andere zu werden: Das Seiende wird Nichtseiendes, die materiellen Körper sowohl der Menschen als auch der Tiere und Pflanzen zersetzen sich zu Humus, der neuem Leben den Weg ebnet. Das, was wir über den Stoffwechsel bereits im Leben und als selbstverständlichen Teil des Lebens kennen, radikalisiert sich im Tod: Wir wechseln den Stoff. Der lebende Körper ist material niemals vollkommen identisch, mit jedem Austauschprozess des Stoffwechsels wird er etwas anderes. Im Tod kommt dieser Prozess in gewisser Hinsicht zu seiner Vollendung.
Daher kann es auch eine Solidarität aller Wesen geben, die von dieser Kontinuität des Lebendigen zehrt. Der Andere, sei es Mensch oder Tier, ist als anderer eben nicht notwendig ein Feind und zu bekämpfender Gegner. Wir können dem anderen helfen und zugleich uns selbst, wir können das Fremde werden und uns erst so selbst gewinnen. Es gibt den Tod, aber man muss wohl nicht notwendig so vor ihm zurückschrecken, wie Kurtz es tut – erst eine übergeneralisierte Angst vor dem Tod lässt uns böse werden, wenn sie zudem in einer paradoxen, weil niemals vollständig erfolgreichen Absicherung vor dem eigenen Sterben besteht.
Eine solche Angst vor dem Tod führt, darin ist dem Philosophen Peter Strasser unbedingt zuzustimmen, zu einem toten, zombiehaften Leben. Strasser schlägt eine Perspektive auf den Tod vor, die ihn in seiner existentiellen Tragweite ernstnimmt, aber darin nicht überhöht. Es geht darum, so Strasser, dem Tod einen Platz zuzuweisen. „Er ist da. Wir sehen ihn gleichsam am Rande, als oceanos (Ozean), […] gewirkt aus Stoff, darin eingemischt Seelenhaftes.“30 Darin liegt eine Alternative zu jenem Schrecken, den Kurtz in der Natur erkennt: Er sieht nur den Tod, überall lauert das Nichts. Strassers Vorschlag wirkt dagegen heilsam, denn er relativiert, ohne dabei das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren – ein Charlie-Brown-Comic fällt mir immer dazu ein: Eines Tages werden wir sterben – aber an allen anderen Tagen nicht. Aber in Strassers Beobachtung liegt noch mehr: Er wählt wohl nicht ohne Grund eine Stoff-Metapher, um den Tod zu charakterisieren. Der Stoff ist ein Gewebe, ein Netz, etwas Verbindendes, hier sogar etwas, dem „Seelenhaftes eingemischt“ ist. Wenn wir Conrads Figur des Kurtz dazu befragen könnten, würde er dieser Todesdeutung wohl kaum zustimmen. Ihm ist der Tod nichts außer bloßer Finsternis; ihm ist nichts beigemischt, er bleibt das vollkommen Verbindungslose. Strasser – und ebenso Scheffler – schlagen eine andere Sicht vor: Selbst im Tod das Seelenhafte, das Lebendige erkennen zu können, verweist uns auf die anderen Wesen. Die Gravität des Todes hebt Strasser dennoch hervor:
„Gewiss, wir kommen zu allen Zeiten aus dem Dunkel, das Licht unseres Bewusstseins lässt nur einen Augenblick lang die bunte Welt des Sinnenscheins erstehen, und dann, am Ende, gehen wir wieder ins Dunkel zurück. Doch dieses Dunkel, dieser ewige Schlaf – oder Halbschlaf – im archaischen Kosmos ist kein Tod in unserem modernen, ganz und gar trostlosen Sinne: kein bloßer Rückgang ins lieblos Anorganische. Es ist vielmehr ein beseeltes Dunkel, und mehr können wir darüber nicht sagen. Aber obwohl wir darüber nicht mehr sagen können, haben wir das Gefühl, wir könnten uns getrost, und deshalb getröstet – unserem Schicksal überlassen: Es gibt eine Kontinuität des Lebendigen, die uns trägt. Wir sind auch im Tod als Seelenwesen bei uns selbst, das eben ist die Gnade eines Seins, das durch und durch seelenhaft ist. […] Denn aus allem, was wir über den Menschen, seine Natur und sein Bewusstsein wissen, folgt eine und nur eine Konsequenz: Niemand kann als der, der er ist – sozusagen als der je Seinige –, den Tod überleben. […] Es geht eher darum, sich auf eine Praxis der Lebendigkeit zu besinnen, mit dem Ziel, die Welt, die wir bewohnen, als einen Ort nicht grundlegender Einsamkeit des Subjekts, sondern seiner Geheimhaltung zu kultivieren.“31
Wer stirbt, stirbt in die Welt hinein, nicht aus ihr heraus, so Strasser.32 Wir werden in einem gewissen Sinne durch den Tod zu jenem anderen, das wir zu Lebzeiten vielleicht aufs Schlimmste bekämpft, verachtet oder verleugnet haben.
Fülle des Lebens
Man muss den Tod der Tiere, ihr Sterben nicht „aushalten“: Es geht nicht um die fragwürdige Geste, dem Nichts heroenhaft ins Auge blicken, ihm standhalten zu können, besser zu sein als ein Kurtz. Ich möchte bezweifeln, dass ein heldenhaftes Sich-Ausliefern an das Absurde einen realen Mehrwert produziert. Es wäre vielleicht abzuwägen, ob eine solche Haltung, die den von Reinhold Schneider beschriebenen Glaspanzer voraussetzt, der verbreiteten Ignoranz und dem Wegsehen vorzuziehen wäre. Zu verstehen, dass das Sterben ein Hineinsterben in die Welt bedeuten kann, erlaubt aber eine andere Zugangsweise zum Sterben der Tiere. Der auch theologisch zu verantwortende Versuch, die eigene Lebendigkeit noch in den Dimensionen der Ewigkeit dadurch retten zu wollen, dass anderes Leben dagegen als unbedeutend deklassiert wurde, muss als gescheitert angesehen werden. Die Fülle des Lebens – ein wesentlich schönerer Ausdruck für das, was theologisch meist „Vollendung“ genannt wird – ist nicht um den Preis zu haben, dass sie anderen grundsätzlich aberkannt wird, ganz im Gegenteil. Die großen metaphysischen