Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann

Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? - Simone Horstmann


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natura pura – reine Natur, weder von der Sünde tangiert noch der Erlösung bedürftig. Der Tod ist für sie so betrachtet etwas vollkommen Natürliches und demnach nichts, was zu betrauern wäre. Damit ist die Grundlage für ein Denken benannt, das wir auch heute selbst abseits aller kirchlichen oder theologischen Selbstverortungen mittragen. Die Annahme, dass Tiere reine Natur seien, die moralisch irrelevant ist und daher nahezu jeden beliebigen Umgang mit ihnen entschuldigt, ist zutiefst in unseren Bestand an Tiefenüberzeugungen eingegangen. Und an eben dieser Stelle begegnet uns auch Conrads grausige Figur des Kurtz wieder: Der Abgrund, in den Kurtz geblickt hat, hat ihn böse werden lassen, gerade weil er in der Natur keinen Sinn, erst recht keine Moral erkennen konnte. Mit diesem Kurtz’schen Blick sehen wir auch heute auf die Tiere. Gerade das vermeintlich amoralische Wesen, das nicht sündigen kann, wird so zum bevorzugten Objekt menschlicher Grausamkeit.

      Wer behauptet, dass Tiere die Schuld an ihrem Schicksal tragen, widerspricht der theologischen Einschätzung eines sündlosen, aber eben auch erlösungsfernen Wesens aber nur auf den ersten Blick. Beide Sichtweisen kommen jedenfalls darin überein, dass sie eine in sich ruhende, für die Dimensionen menschlicher Hoffnung nicht weiter ansprechbare Natur der Tiere beschreiben. Natura pura – dies ist die zutiefst bedenkliche Vorstellung einer „reinen Natur“, besser noch müsste man formulieren: einer bloßen Natur, die nicht mehr ist als sie selbst, die auf nichts außerhalb ihrer selbst verweist und be-deutungslos ist. Wer in den Tieren eine solche natura pura zu erkennen glaubt, blickt in der Tat in das Herz der Finsternis: Hier ist Natur eben nur sie selbst. Kein höherer Sinn liegt in ihr beschlossen, es gibt nicht mehr über sie zu sagen als dieses eine: Dass es sie gibt – sie ist, wie sie eben ist. Wer dies hinterfragt, verhält sich bereits unnatürlich, und wer dagegen Einspruch erhebt, wäre erst recht ein Narr, wenn er die Schicksalhaftigkeit der Natur beklagt, das Sterben der Tiere betrauert, sich mit der Natur nicht abfinden mag, wenn alles Natürliche im Angesicht des Todes mit einem Mal so vollkommen unnatürlich und falsch scheint.

      „… die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht“

      Das 20. und 21. Jahrhundert sind traumatisiert von der monströsen Wiederkunft des Conrad’schen Kurtz, den eine rein instrumentelle Vernunft leitet, die inhaltlich vollkommen entkernt und wertfrei ist. Wer nichts im Anderen erkennen kann oder will, erkennt in ihm schnell jenes Nichts im Herzen der Finsternis. Mit der Beobachtung, dass dieses Erkennen dialektisch, gewissermaßen spiegelbildlich funktioniert, haben Adorno und Horkheimer etwas Entscheidendes gesehen. Denn die Erkenntnis des Nichts im Anderen geht nur allzu oft Hand in Hand mit dem Wirksamwerden dieses Nichts im Eigenen. So ließe sich auch die kurze Passage aus der „Dialektik der Aufklärung“ lesen: Das, was der Mensch im Tier zu erkennen meint, hier also die scheinbare tierliche Unfreiheit und Determiniertheit, ist eine Form der gleichwohl schmerzhaften, und daher verdrängten Selbsterkenntnis: So macht sich der Mensch zur freiwilligen Maschine. Die Tragik dieser Beziehung zwischen Mensch und Tier, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, hat der bulgarisch-stämmige Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov in unnachahmlicher Weise auf den Punkt gebracht:

      Die Schuld der Zurückgebliebenen


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