Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann
Bibel und damit verbunden die Erzählung vom sog. Sündenfall gleichermaßen als Verhältnisbestimmung zwischen einem Ich und einem Du gelesen werden kann. Auch wenn der Begriff der Sünde im biblischen Text selbst gar nicht vorkommt, erwächst das dort geschilderte Böse aus einem grundlegenden Misstrauen vor dem jeweils anderen und führt in der Konsequenz zur Verfeindung von Mensch und Mitmensch, Mensch und Tier, Mensch und Gott.
Entscheidender dürfte aber noch ein weiterer Aspekt sein: Insbesondere die moderne Theologie hat darauf hingewiesen, dass auch Gott selbst zu häufig als der Andere gedacht und von Theologie und Kirche verkündet wurde. Selbst die eigentlich trinitarisch verfasste Theologie des Christentums hat sich häufig genug dualistisch geriert und die Gegensatzpaare von Schöpfer und Schöpfung, Gott und Mensch, Himmel und Erde, Natur und Gnade usf. zur Strukturierung ihrer Theoriegebäude aufgegriffen. Sie schienen geeignet, das erste Gebot zu wahren – keine anderen Götter zu verehren, das bedeutet schließlich auch: Nichts Weltliches darf vergöttlicht werden, die Grenze zwischen den Gegensätzen muss möglichst klar bleiben. Der bedrohliche Gegensatz von Ich und Du, Eigenem und Fremdem liegt gleichermaßen darin. Romano Guardini, sicher einer der weisesten Theologen des 20. Jahrhunderts, hat eindringlich vor der Gefahr einer solchen Theologie gewarnt: Sie besteht darin, dass Gott in diesem Denken als der Andere schlechthin begriffen wird. Diese denkerische Grundlegung führt dazu, dass der Mensch zu Recht aufbegehrt:
„Mein Selbst kann nicht unter der Gewalt des Anderen stehen, auch nicht, wenn dieser Andere Gott ist. […] Und zwar nicht deshalb, weil meine Person vollkommen wäre und darum die andere nicht über sich ertrüge, sondern gerade weil sie das nicht ist. Gerade weil mein Selbst nicht wirklich und sicher in sich steht, wird ihm die Anwesenheitswucht des Anderen gefährlich. […] Dann kommt das Gefühl: Er oder ich! […] Daraus kommt der ‚postulatorische Atheismus‘: Wenn ich sein soll, kann er nicht sein.“16
Guardini sieht etwas sehr Wichtiges: Eine bestimmte Art, Gott zu denken, führt paradoxerweise zur Unmöglichkeit, Gott angemessen zu denken – der Theismus kippt in sein Gegenteil, den Atheismus. Etwas ganz Analoges erleben wir heute, wenn wir versuchen zu verstehen, wie wir bislang über Lebendigkeit, über lebendige Wesen nachgedacht haben. Die Tatsache, dass wir selbst heute noch von anderen Lebewesen als Objekten denken, im wörtlichen Sinne also als Wesen, die uns gegenübergestellt sind, bezeugt doch, dass auch wir immer noch der Fundamentalopposition von Ich und Du anhängen. Nahezu alle natur- und tierphilosophischen Ansätze der nächsten Jahre werden sich die Frage stellen müssen, welche Alternativen es zu jener radikalen Gegenüberstellung von Ich und Du geben kann, wenn ihnen daran gelegen ist, den Dauerkriegszustand zwischen den lebendigen Wesen zu beenden. Für die Theologie und die Gottesfrage vermerkt Guardini: „Gott ist nicht ‚der Andere‘, sondern Gott“, und er ergänzt: „Daran, dass das erkannt wird, hängt die Erkenntnis der Schöpfung und das Selbstverständnis des Menschen.“17 Das Kernproblem des Theismus kennzeichnet Guardini hier also dadurch, dass Gott als der Andere des Menschen erscheint bzw. so ausgelegt wird. Guardini betont deswegen:
„Von jedem Wesen sonst gilt der Satz: Es ist nicht ich, also ein Anderes. Von Gott gilt dieser Satz nicht; und eben dass er nicht gilt, drückt Gottes Wesen aus. In dem Verhältnis, von dem wir sprachen, wird Gott ein Anderer gemacht, der größte von allen: der Andere schlechthin. Ist er das, dann muss der Mensch den schrecklichen Kampf der Befreiung gegen ihn aufnehmen, und Nietzsche hätte recht. Gott ist aber nicht der andere, deshalb, weil er Gott ist. Als Gott steht er dem Geschöpf so gegenüber, dass die Kategorie des Anderer-Seins auf ihn ebenso wenig angewendet werden kann wie die des Gleicher-Seins.“18
Wohlgemerkt, Guardini nimmt die anderen Wesen, also auch die Tiere, von seiner zentralen Erkenntnis aus. Gerade hier liegt die bislang weitestgehend unerschlossene terra incognita einer Tierphilosophie: Sind denn die anderen Wesen wirklich, wie Guardini sagt, die ganz Anderen – denen folgerichtig nur im Modus der Furcht bzw. des Kampfes zu begegnen wäre?
Der tote Himmel der Menschen
Wenn Letzteres wirklich zuträfe, hätte Tanja Blixen wohl recht: Die zu Tode gejagten Tiere bekämen dann nur das, was sie verdienten, und die Frage, die sie stellt, liegt vielleicht nahe: „… warum hatte er auch nichts aus ihrem Schicksal gelernt?“ Fixiert auf diesen Vorwurf des selbstverschuldeten Todes überliest man schnell, welche paradoxe Doppelbödigkeit hier formuliert wird: Denn aus dem Schicksal, wenn man denn daran glauben mag, gibt es rein gar nichts zu lernen. Es ist zu akzeptieren oder womöglich zu exekutieren, aber es widersteht – eben weil es Schicksal ist – jeglichen Bestrebungen des Menschen oder auch der Tiere, es zu verändern. So ist es dann eigentlich auch recht praktisch: Was die Tiere beschuldigt, entschuldigt zugleich den Menschen. J. M. Coetzees bedrückender Kurzroman „Das Leben der Tiere“ (1999) unterstellt wohl zu Recht, dass eine solche Haltung vielen Menschen eigen sein dürfte. Der Sohn der Protagonistin Elisabeth Costello, einer leidenschaftlichen Tierphilosophin, gibt dies unumwunden zu:
„Das ist die brutale Wahrheit, dass die Tiere in gewissem Sinne verdienen, was sie bekommen. Warum willst du deine Zeit verschwenden und ihnen zu helfen versuchen, wenn sie sich nicht selbst helfen? Überlass’ sie einfach ihrem Schicksal. Wenn man mich fragen würde, was die allgemeine Haltung gegenüber den Tieren ist, die wir essen, würde ich sagen: Verachtung. Wir behandeln sie schlecht, weil wir sie verachten; wir verachten sie, weil sie sich nicht wehren.“19
Es lohnt bei aller Abscheu vor diesem Argument dennoch, der Fährte zu folgen, die die Rede von der Schuld der Tiere legt. Wer den Tieren die Schuld an ihrem Schicksal zuschreibt und dieses Schicksal mit ihrem Tod in Verbindung bringt, greift einerseits auf ein theologisches Argument zurück und hebt sich dem Augenschein nach andererseits auch von diesem Argument ab. Denn eine Schuld hat die Theologie den Tieren gerade nicht zuschreiben wollen – sie haben, so kann man die klassisch-traditionelle Lehre zusammenfassen, keinerlei Schuld, weil sie frei von Sünde sind. Es steht außer Frage, dass eine solche Auffassung nur unter weitestgehender Ausblendung von wichtigen biblischen Beobachtungen möglich ist: Wenn die Tiere nicht unter den Folgen des sog. Sündenfalls litten, gäbe es etwa auch für Paulus strenggenommen keinen Anlass, im Römerbrief vom Leiden der gesamten Schöpfung zu sprechen (Röm 8). Es ist gar nicht abwegig, dass viele theologieferne Zeitgenossen heute dieser Deutung der sündlosen Tiere durchaus Sympathie entgegenbringen. Wir sind es schließlich gewohnt, die Tiere moralisch und juridisch ent-schuldigt zu wissen: Ebenso wenig, wie sie bei uns moralische oder rechtliche Pflichten besitzen, verfügen sie über (tatsächlich schützende) Rechte. Ihre Sündlosigkeit bedeutet jedoch mehr als bloße Schuldunfähigkeit, und dies ist wohl das schwerste Erbe unseres auch theologisch imprägnierten Tierwissens: Ihre Sündlosigkeit hat zumindest in der lehramtlichen Deutung der Tiere die unmittelbare denkerische Konsequenz, dass sie der Erlösung nicht bedürfen. Mit anderen Worten: Wir stehen in einer Tradition, in der die Tiere mit Blick auf die wirkliche Wirklichkeit – denn die ist schließlich gemeint, wenn die Theologie von der Erlösung spricht – nichts zu verlieren und ebenso wenig zu gewinnen haben. Ihr Wesen macht sie unempfänglich für die Verheißung, sie sind für diese schlichtweg irrelevant. Ganz auf dieser Linie stehen dann auch die Traditionsentwürfe, die ein manchmal vages, manchmal recht konkretes Bild der erlösten Wirklichkeit zeichnen, die selbst noch in säkularen Kontexten mit dem Begriff des Himmels umschrieben wird. Dieser Himmel ist bevölkert einzig von den erlösten Menschen, die der seligmachenden Gottesschau frönen. Alles weitere Lebendige, also auch die Tiere, sind hier nicht zugegen. Es entbehrt nicht einer unfreiwillig amüsanten Logik, dass noch der große Kirchenvater des Mittelalters, Thomas von Aquin, neben den Menschen einzig den Elementen einen Ewigkeitswert zugestehen wollte20: Ein Himmel voller Menschenseelen sowie den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Dass heute niemand mehr so recht an den Himmel zu glauben vermag, liegt sicher auch an dieser sterilen, beinahe toten und ganz sicher totlangweiligen Vollendungsszenerie.
Wenn der natürliche Tod unnatürlich wird
Der Tod ist der Sünde Sold – dies gilt gemäß den klassischen Setzungen