Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann
Kurzroman „Herz der Finsternis“ (1899) trägt ein Bild für jenes Grauen vor dem Abgrund des Nichts im Titel.5 Er schildert die Begegnung mit der afrikanischen Wildnis, die sich trotz all ihrer anfänglichen Schönheit jeglichem Sinn konsequent entzieht. Conrads Protagonist, der Seemann Marlow, soll entlang des Kongos einen Mann namens Kurtz ausfindig machen. Der ehemalige Menschenfreund gilt mittlerweile als brutales Ungeheuer: „Unter den Teufeln des Landes hatte er einen der obersten Plätze eingenommen“6 – tyrannisch, durchtrieben und mit unvorstellbarer Gewalt regiert er das von ihm eroberte Gebiet. Die Eingeborenen, die Kurtz trotz – oder wegen? – seiner Grausamkeiten als einen Zauberer verehren, wollen ihn zunächst nicht gehen lassen. Kurtz stirbt schließlich auf der beschwerlichen Rückreise und haucht mit einem Fensterblick in die Wildnis seine letzten – berühmt gewordenen – Worte: „Das Grauen, das Grauen!“7 Die jahrelange Konfrontation mit der Wildnis im tiefsten Herzen Afrikas hat, so deutet es Marlow halb beängstigt, halb beeindruckt, offenbar Besitz von Kurtz ergriffen. Man missversteht diese Übereignung aber, wenn man sie so auffasst, dass Kurtz ganz einfach Kultur gegen Natur, Zivilisation gegen Wildnis eingetauscht und demnach einen bloßen Wechsel des Herrschaftsprogramms vollzogen hätte. Es ist komplizierter: Das Grauen, das Kurtz ergreift, ist das schiere Entsetzen angesichts einer Wildnis, die in all ihrer lebendigen, farbenfrohen Vielfalt jeglichen Sinn verweigert. Ihr beständiges Raunen, Plätschern, Zirpen und Rufen ist für Kurtz nicht mehr als ein nur oberflächlich überspieltes Schweigen, und die Kontingenz, die Nicht-Notwendigkeit dessen, was in ihr ist, nur die grausige Kehrseite dieser lebendigen Vielfalt. So sieht es schließlich auch Marlow:
„Ich glaube, am Ende wusste er davon – erst ganz am Ende. Aber die Wildnis hatte ihn frühzeitig erkannt, und sie hat für die groteske Invasion furchtbare Rache an ihm genommen. Ich glaube, sie hatte ihm Dinge über sich selbst zugeflüstert, von denen er nicht wusste, Dinge, deren er sich nicht bewusst war, bis er mit dieser tiefen Einsicht zu Rate ging – und dies Flüstern hatte eine unwiderstehliche Faszination auf ihn ausgeübt. Es hallte dröhnend in ihm wider, denn er war im Innern hohl.“8
Kurtz, der der Wildnis so lange gelauscht hat, ist in gewissem Sinne nur das konsequente, zugleich wahnsinnig gewordene und doch geistig vollkommen klare Ergebnis jener ungezähmten Wirklichkeit, die in ihrem Herzen, im tiefsten Grund ihres Seins, das Nichts in sich trägt und bisweilen freizügig offenbart. Sie, die zum Subjekt evolvierte Natur, spiegelt jenes Sinnvakuum, das auch im Menschen entdeckt werden kann. Sie ist frei von jeder Botschaft, jeglichem tieferen Sinn, einzig pure Kontingenz, die demjenigen, der nur lang genug lauscht, auf erschütternde Weise mitteilt, dass sie ihm rein gar nichts mitzuteilen und zu bedeuten hat. Die natura loquitur, die sprechende Natur, von der vor allem das Mittelalter noch so verzückt war, wird spätestens bei Conrad einem Fundamentalverdacht ausgeliefert: Was wäre, wenn die Natur zwar spricht, aber nichts zu sagen hat?
„Etwas ist wirksam in uns, das uns wie mit Glas umschließt“
Tatsächlich kann auch das die Poesie der Wildnis sein: eine ängstigende Sinnlosigkeit im Gewand der verspieltesten, farbenprächtigsten Formen, ein Taumeln über dem Abgrund. Das „Herz der Finsternis“ ist ein wichtiger, wenngleich kein einfach zu verkraftender Ankerpunkt innerhalb einer natur- und tiersensiblen Literacy. Conrads Augenmerk gilt zwar weniger unmittelbar den Tieren als vielmehr der Wildnis an sich, erklärt aber einen zentralen menschlichen Impuls im Angesicht der Tiere: Wer den Blick des Lebendigen nur lange genug erwidert, erkennt darin ab einem bestimmten Punkt eine ganz ähnliche Kontingenz – vielleicht eine der beängstigendsten Urerfahrungen des Menschen mit der Natur und mit den Tieren. Wir sehen in ihnen bisweilen alles, aber auch wieder nichts. Diese Erfahrung steht irritierend quer zu den vereinnahmenden, euphorischen Ansätzen eines Naturverstehens und Nature Writing im Anthropozän, die jenes Zurück-zur-Natur-Motto predigen, das aus Conrad’scher Sicht zutiefst verschrecken muss – denn zurück zur Natur bedeutet in diesem Fall: zurück in eine amoralische, sinnwidrige Wirklichkeit, frei von jeglicher Orientierungsmöglichkeit, in der nichts Bedeutung hat, weil das Nichts regiert. Schon der große Vernunftdenker der deutschen Aufklärung, Immanuel Kant, erlebte den Schrecken dieses horror vacui, als er bei der Lektüre der Werke Herders erstmals die für ihn unvorstellbare Möglichkeit aufscheinen sah, dass die Ordnung der Arten auf dieser Welt nicht feststünde, dass sie nicht auf ein Ziel hinauslaufen könnte – der Schatten jener „geheimnißvolle[n] Dunkelheit, in welche die Natur selbst ihre Geschäfte der Organisation und die Classenvertheilung ihrer Geschöpfe einhüllte […]“.9
Ist der Blick in die Natur also ein Blick in das abgründige Nichts? Die Möglichkeit, dass die wilde, ungeordnete Natur zumindest eine eisige, sinnabweisende Schönheit sein kann, hat auch Reinhold Schneider in seinem Tagebuch „Winter in Wien“ (1957/58) immer wieder beschäftigt, das er nur fünf Tage vor seinem eigenen Tod fertigstellte.10 Besonders deutlich wird dies in einer Schilderung des Winters am Neusiedler See:
„Über die Eisflächen tanzen diamanten leuchtende Flocken aus Eiskristallen, Winterschmettterlinge, nach denen der Wind vergeblich mit auf der Bahn hingleitenden Eisstücken wirft. Spiel des Wassers und der Flocken, Wiege des Windes, unaufhörliche Verwandlung des Lichts, eine Fremde, in der sich der Mensch, scheu vom schmalen Ufer in das Grenzenlose blickend, als Fremdling erkennt. Wer kann sagen, dass er Natur versteht?“11
Eine Antwort auf diese letzte Frage scheint beinahe überflüssig. Niemand, dem diese menschenabgewandte, in sich selbst ruhende Natur der „Winterschmetterlinge“ aus Eis begegnet ist, würde so etwas von sich behaupten können. Schneiders Frage, wie auch der umfassende Hintergrund seines Werkes, ist an die moderne Naturwissenschaft gerichtet: Gerade sie sollte doch zumindest dieses eine für sich in Anspruch nehmen können, nämlich die Natur zu verstehen. Für Schneider ist der naturwissenschaftliche Habitus, der in der Natur verstehbare Zwecke zu erkennen glaubt, dennoch ein „Unrecht an der Natur“:
„Wir sagen: die Chlorophyllkörner in den Blättern verschlucken Sonnenenergie, um sie für den Aufbau organischer Stoffe zu verwerten – und spüren nicht die Anmaßung in diesem ‚um‘, die einem Gliede eine Einzelfunktion zuteilt, als ob es sich um das Rädchen einer Konstruktion handle, nicht um einen Lebenszusammenhang, in dem jegliches Vorhandene in unbegrenzbaren Bezügen wirkt. […] Wir können vielleicht solche Hilfskonstruktionen nicht vermeiden, aber sie führen zu Missverständnissen, sie sind Unrecht des Menschen an der Natur. Hier, an dem föhnigen Wintertag, vor der sandigen Uferstraße des Neusiedler Sees, lebt sie in sich selbst, einsam in spielender Verwandlung, Erscheinungen zeitigend, Welle und Flocke und Licht und Tanz der Halme, die uns, den Eindringlingen, als Wunder erscheinen, weil wir die Totalität nicht als Wunder begreifen wollen. Vielleicht ist dieses Dasein ein Leiden, aber dann in keinem zugänglichen Sinne; die Natur bedarf unseres Wortes nicht; es kann sie gar nicht erreichen. Indem wir ihr eben begegnen, stoßen wir an die Grenzen unserer Existenz; jenseits vermögen wir nichts. […] Etwas ist wirksam in uns, das uns wie mit Glas umschließt, das die Osmose verhindert; es ist die Wirkkraft, die uns gebaut hat. […] Und also ist unsere Antwort, […] unsere rastlose Antwort Ehrfurcht vor dem Unfassbaren, vor einer Daseinsgemeinschaft, hinter der unüberschreitbaren Grenze.“12
Was Schneider in dieser winterlichen Landschaft erkennt, ähnelt zunächst einmal dem, was auch Conrads Schilderung der Wildnis ausmacht. Als ein Verlorener, Ausgestoßener lugt der Mensch in die Natur, die ihn weder braucht noch auf seine Fragen antwortet. Ob es den beobachtenden Menschen nun gibt oder nicht, spielt für die Natur keine wesentliche Rolle: Für das Leben und Sterben der Tiere und Pflanzen in all den Jahrmillionen der Erdgeschichte scheint es einerlei, ob es den Menschen gibt; wenn überhaupt, so taucht er als Störgeräusch und randständige Einflussgröße in diesem ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens auf. Dennoch: Der Kontingenz der Natur muss der Mensch – das ist eins der großen Dramen seiner Existenz – trotzdem begegnen, auch wenn sie ihm womöglich niemals antworten wird, muss er doch seine Antwort auf sie finden. Conrads dämonische Figur des Kurtz demonstriert eine denkbare, wenngleich schreckliche Lösung: Wenn es keinerlei Sinn mehr gibt, dann kann daraus die Entscheidung zum moralischen