Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann
fatalen Schwund an Biodiversität deutet; noch geht es um eine letztlich ökonomisch gefärbte Variante dieses ökologischen Paradigmas, die vor einer Krise versiegender tierlicher Rohstoffe warnt. Ziel des Buches ist es vielmehr, die Angst vor einem Verlust der Tiere – als Individuen, als Arten, als den ganz Anderen und den ganz Vertrauten – in ihrer existentiellen Bedeutung zu erfassen.
Zum Stellenwert von (Tier-)Erfahrungen
Dies kann aber nur gelingen, wenn unsere Erfahrungen mit anderen Tieren einen anderen Stellenwert einnehmen, als dies bislang zumeist der Fall ist. Eben darauf hatte ja bereits die so verbreitete Metapher der Windschutzscheibe hingewiesen: Der von ihr bildlich zum Ausdruck gebrachten Trennung zwischen den Menschen und den anderen Tieren entspricht auch eine grundlegende Erfahrungsskepsis, die unser Selbstverständnis als moderne Menschen prägt. Daher lässt sich einerseits auch bezweifeln, dass eine Untersuchung des Mensch-Tier-Verhältnisses gültige Ergebnisse produzieren kann, sofern sie mit der vordarwinschen Trennungslogik einer fundamentalen Differenz zwischen Tieren und Menschen eine Grundbedingung als unhinterfragbar voraussetzt, die historisch offenkundig kontingent ist. Andererseits ist die Einsicht in die uns prägende Erfahrungsskepsis auch deswegen wichtig, weil wir tagtäglich Erfahrungen mit anderen Tieren machen (könnten), denen wir nicht selten eine existentielle Bedeutung zuschreiben, dann aber schnell vor dem vermeintlichen Dilemma stehen, dass wir diesen Erfahrungen gleichzeitig zutiefst misstrauen. Und schon gar nicht gelten diese Erfahrungen als wissenschaftsfähig – wer heute über die Erfahrung etwa der Freundschaft mit Tieren sprechen will, dem empfiehlt die traditionelle Wissenschaft womöglich, dies doch besser an anderer Stelle zu tun. Einzig im privaten Rahmen gestehen wir uns diese Erfahrungen zu, und die etablierten Sprecherpositionen unserer Gesellschaft ermutigen ganz in diesem Sinne dazu, Erfahrungen wie diese besser auf anderen Kanälen zu verbreiten: Man solle dann besser ein Bild malen oder ein Gedicht verfassen, um einer Tier-Erfahrung Ausdruck zu verleihen; für wissenschaftliche Belange scheinen sich diese Erfahrungen hingegen immer schon disqualifiziert zu haben.
Für unser Verhältnis zu den anderen Tieren ist diese Strategie der Veruneigentlichung der Erfahrungen höchst bedenklich. Denn auch der wissenschaftliche Blick bedarf zur Erfassung von Subjekten einer dezidiert subjektiven Perspektive! Damit wird nicht zuletzt der Tatsache Rechnung getragen, dass Menschen kein „zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit“ (Th. W. Adorno) haben, sondern sich zumeist als Teilnehmende und Mitagierende einer gemeinsamen Lebenswelt verstehen, in der immer auch Tiere vorkommen. Damit Tiere auch zukünftig darin vorkommen können, ist es womöglich entscheidend, nicht allein quantifizierbare Daten in die aktuell so gern geführten Nachhaltigkeitsdebatten einzuspeisen, sondern das qualitative Bedeutungswissen von Menschen in ihren Beziehungen zu anderen Lebewesen auch wissenschaftlich zu rehabilitieren. Aus eben diesem Grund changiert dieses Buch beständig zwischen einer Verortung seiner Frage innerhalb der verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse einerseits und einer erfahrungsbezogenen, mitunter erzählerischen und essayistischen Form. Diese ungewohnte Herangehensweise soll den fälschlichen Schluss vermeiden, dass wir die ökologischen Gefährdungen dieser Tage nicht nur als den Anlass, sondern als den Grund einer Neubestimmung des Mensch-Tier-Verhältnisses verstehen. Die bloße Feststellung, dass (andere) Tiere bedroht sind, genügt noch nicht, um zu begründen, warum eine solche Neubestimmung notwendig ist. Vielmehr brauchen wir ein Argument, das verdeutlichen kann, was genau mit dieser Bedrohung auf dem Spiel steht. Was also fehlt, wenn (uns) die Tiere fehlen?
Das tote Tier
Ihr graubraunes Fell war makellos. Ein verheißungsvoller Aprilwind strich darüber und teilte es so, dass das weiße Unterfell sichtbar wurde. Während ich mich zu der Maus auf die moosbewachsene Waldlichtung kniete, musste ich daran denken, dass ein solch perfektes Fell schon bei gesunden Mäusen selten zu finden ist. Meist sind die Tiere, wenn auch nicht überdeutlich, doch erkennbar von ihrer Umwelt und bisweilen von ihrem Alter gezeichnet. Wer nach einem futterlosen Tag bereits dem Hungertod nahe ist, mag andere Sorgen haben als ein glänzendes Fell. Die kleine Maus vor mir jedoch schien äußerlich perfekt.
Mein Hund war beim Spaziergang durch den Wald auf sie gestoßen. Wie immer lief er mehrere Meter vor mir her, sodass ich mit einigen Schritten Abstand nur beobachten konnte, wie er kurz an etwas auf dem Boden roch und dann weiter trottete. Ich blieb stehen, erkannte die Maus und hockte mich vor sie, ließ sie nicht aus den Augen. Ich konnte nicht sofort erkennen, ob sie tot war oder lebte, zumindest so gerade noch. Vorsichtig berührte ich die Tasthaare an ihrer Nasenspitze. Keine Reaktion. An ihr gab es keinerlei äußerlich erkennbare Verletzungen, keine Wunden oder Bissspuren, wirklich nichts, was etwa auf einen Angriff durch ein anderes Tier hingedeutet hätte.
Etwas an der Situation ließ mich plötzlich unsicher werden. Mir fiel auf, wie sehr ich mich für so vieles schämte, was ich gerade dachte – dass ich mich überwinden musste, sie zu berühren, aufgrund einer diffusen, frühkindlichen, vielleicht nie wirklich ausgesprochenen, aber auch deswegen umso wirkungsvolleren Regel: Fasse nichts Totes an. Ich schämte mich auch, als ich einige Blüten und Zweige neben ihr drapierte. Was sollten andere Waldspaziergänger denken, wenn sie das sahen? Kein Grab, eher eine Aufbahrung der Leiche. Dann wieder: Die Scham, sich zu schämen, es war doch gut gemeint. Aber wie war es eigentlich genau gemeint?
Ich bin aufgewachsen in einer Tradition, in der solch eine Situation stets von den schulmeisterlichen Worten eines Großvaters begleitet wurde, die im getragenen Ton einer Moll-Melodie über den Lauf der Dinge, das Geborenwerden und Sterben, Entstehen und Vergehen sinnierten. Dieser Großvater ist prototypisch, wir alle kennen ihn. Er begleitet seine Enkelkinder durch den Wald, lehrt die Zusammenhänge der Natur, er spricht die Vertonungen der endlosen Tierverfilmungen, kommentiert zurückgelehnt das Zerfleischen eines Zebras durch afrikanische Löwen. Noch während sie ihre Reißzähne in das zuckende Fleisch rammen, spricht der Großvater die tröstenden Worte, die große Erzählung vom Kreislauf der Natur. Bis heute weiß ich, dass es mir und allen aufgegeben ist, einen Reim darauf zu finden. Während ich auf dem Waldboden neben der toten Maus in der Hocke saß, fand ich keinen. Bestenfalls war da ein kleiner Binnenreim, die Wiederholung von etwas Größerem, das noch fehlte. Die großen Erzählungen der Natur ließen mein Bestattungsflorilegium tatsächlich wie das Werk eines weltfremden Kauzes erscheinen. Ich war in diesem Moment sicher: Wenn ich mich umdrehen würde, gerade in diesem Moment, ich müsste dort die zigtausend Vorgänger dieser Maus sehen, ihre Myriaden an längst toten Verwandten. Wie eine Mauer würde die Masse der Toten hinter mir jenes Recht einklagen, das ich nun jener einen winzigen Maus und ihrem Tod zugestand.
Die Individuen in dieser Mauer schienen dem Großvater Recht zu geben. Sie bezeugten, dass auch der Aufstand gegen den Naturverlauf einstmals vor eben dieser Natur zu kapitulieren hätte. Ich habe mich an diesem Tag nicht umgedreht. Hermes, mein Hund, war daran wie so oft schuld, aber es war auch meine Entscheidung. Und es war das makellose Fell der kleinen Maus. Erst als wir den Wald bereits hinter uns hatten, fiel es mir plötzlich ein: Corpus incorruptum – der unverweste Leichnam – ist ein Kriterium kirchlicher Heiligsprechungsverfahren. Die kleine Maus war dem Kreislauf der Natur nicht entkommen, sie war ganz eindeutig tot. In ihrem perfekten Fell aber sah ich den Beginn einer neuen, unerzählten Geschichte: vom schlimmsten Raubtier schlechthin, das seine Beute urplötzlich verschont.
Religion beginnt im Ernste doch erst dort,
wo aller Grund vorhanden scheint, sie aufzugeben.
JOSEPH BERNHART
„Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich“
Tiere sterben. Aber erst seit Kurzem, könnte man meinen: Es ist noch nicht lange her, dass die deutsche Sprachkonvention diesen Ausdruck fein säuberlich vermied. Tiere konnten zwar verenden oder vergehen – das Sterben hingegen war zumindest dem Begriff nach dem Menschen vorbehalten. Schon häufiger habe ich mich gefragt, ob diese linguistische Version des eschatologischen