Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?. Simone Horstmann
zumindest dies eine als Hoffnung blieb: Ich bin kein Tier. Dass der Mensch stirbt, das Tier aber verendet, heißt ja schließlich: Der Tod bedeutet beiden etwas grundsätzlich anderes. Das Sein der Tiere ver-endet an der Todesgrenze, hinter ihm schließt sich für immer eine Tür. Menschen sterben – man höre nur dem Rhythmus der beiden Wortsilben nach: Ein anfängliches Stolpern, ein kurzes Innehalten ist ihnen der Tod – st…! – aber es folgt dann doch noch etwas, und die Tür fällt niemals so ganz ins Schloss, weil der Mensch immer noch einen Fuß dazwischen bekommt. Unsere Sprache hat lange keinen Zweifel daran gelassen, dass Menschen und Tiere ein Abgrund trennt. Tiere werden geworfen, sie fressen, vegetieren vor sich hin, werden erlegt oder verenden schließlich.
Arthur Schopenhauer hat als einer der ersten kritisch auf diese theriophobe, also tierfeindliche Färbung unserer Sprache hingewiesen, das war vor knapp 200 Jahren.1 Und in der Tat gibt es gute Gründe, eine derartige Sprachnorm zu kritisieren, die sich in immer neueren Variationen bis heute durchhält. Eine solche Kritik hat es allerdings auch mit mächtigen, bis heute wirksamen Gegenstimmen zu tun: Der deutsche Philosoph Martin Heidegger etwa hat mit Vehemenz jenen fundamentalen Unterschied zwischen Tieren und Menschen stark machen wollen – und dies gerade an den vermeintlich unterschiedlichen Arten ihres Sterbens festgemacht:
„Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich.“2
Mit diesen Worten bringt Heidegger den aus seiner Sicht entscheidenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen auf den Punkt: Während der Tod des Menschen metaphysische Qualität besitze, sei der Tod der Tiere bedeutungslos. In seinen knappen, apodiktischen Sätzen scheint er diesen Unterschied mehr zu behaupten denn argumentativ zu belegen. Gefährlich ist seine Sichtweise dennoch: Wer wie Heidegger vom Verenden der Tiere spricht, ihrem Sterben also lediglich eine chronologische Bedeutung, aber keine darüber hinausreichende existentielle oder gar metaphysische Relevanz zuerkennen will, verwehrt ihnen letztlich ihren Tod. Darin dürfte eine besonders perfide Strategie liegen, das Leben der Tiere zu diskreditieren – jener Tiere, die einerseits immer noch Sinnbild einer menschengemachten Vernichtung sind, und denen andererseits auch im Gefolge einer Sprachnorm á la Heidegger nicht zugestanden wird, wirklich zu sterben. Die Moderne wird sich daher zu Recht die Frage gefallen lassen müssen, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, den massenhaften und industriellen Tod der Tiere zu glauben, ihn wirklich als jenes Grauen anzuerkennen, das er ist.
„Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung“
Allen Einflüsterungen über das bloße Verenden der Tiere zum Trotz gibt es in unserer Erfahrung eben doch immer wieder diesen Blick toter Tiere, ihren bloßen Anblick. Eine urtümliche Erschütterung, die wir nur zu gern von uns abschütteln würden – denn der Blick sterbender Tiere vermag uns zu berühren, an allen abstrakt-rationalen Erwägungen vorbei trifft er uns doch immer wieder ganz unvermittelt. Die polnische Schriftstellerin Wisława Szymborska hat diesem Anblick toter Tiere in ihrem Gedicht „Von oben betrachtet“ poetisch Ausdruck verliehen.3 Auch ihr Blick als Dichterin ist also zunächst ein Blick von oben, aber doch nicht jener abstrakt-distanzierte Blick eines Martin Heidegger. „Ein toter Käfer liegt auf dem Feldweg“ heißt es in Szymborskas Gedicht zunächst ganz abgeklärt und sachlich, die Beinchen des Käfers liegen sorgfältig, fast noch heile und scheinbar intakt „über dem Bauch gekreuzt“. Und doch: Es ist gerade dieser Anschein von Ordnung, der das Grauen des Todes überhaupt erst in seiner Tiefe zugänglich macht. „Die Trauer teilt sich nicht mit“, wendet das lyrische Ich zunächst noch gegen dieses erste Erschrecken ein, ihre Reichweite sei lediglich „streng lokal von der Quecke zur Minze“, gerade weil der Tod des Tieres derart ordentlich anmutet: „Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung.“ Dann erkennt das lyrische Ich aber doch, dass dieses scheinbar gezähmte Grauen, das die Ordnung des tierlichen Todes anzudeuten scheint, dem säuberlich trennenden Denken des Menschen entspringt: Die Tiere
„[…] krepieren sozusagen den seichteren Tod, / verlieren – wir wollen es glauben – weniger Welt und Fühlen, / verlassen – so will uns scheinen – eine weniger tragische Bühne.“
Und nur kurz darauf heißt es dann von dem toten Käfer: „Er liegt, als wäre ihm nichts von Bedeutung passiert.“ Diesem Mantra eines bedeutungslosen Sterbens und Verschwindens der Tiere folgt unsere Gesellschaft bis heute. Mögen Darwin und mit ihm die neueren Evolutionstheorien die Grenze zwischen den Arten noch so sehr eingeebnet haben, spätestens wenn es ans Sterben geht, zelebrieren wir bis heute die doppelte Metaphysik eines bedeutungslosen, weil tierlichen Todes auf der einen und den metaphysischen Staatsakt menschlichen Sterbens auf der anderen Seite. Inwieweit sich durch die zunehmenden Möglichkeiten und Formen von Tierbestattungen eine Trendwende abzeichnet, bleibt abzuwarten.
Es ist daher aufschlussreich, die Gründe für die Instandsetzung und die jahrhundertelange, penible Wartung dieser fundamentalen Grenze zu suchen, über die keine Brücke zu führen scheint. Was genau schützt eine solche Sprachnorm, die den Menschen das Sterben exklusiv zuspricht und damit zugleich andeutet, dass dieses Sterben besonders, womöglich nicht endgültig sei? Wenn es umgekehrt betrachtet stimmen sollte, dass Tiere sterben (und eben nicht „verenden“), dann definieren sich beide Begriffe nahezu gegenseitig. Am sterbenden Tier lernt der moderne Mensch eine der schmerzlichsten Lektionen des Lebens, vor der ihn die Rede vom Verenden der Tiere nach Möglichkeit zu bewahren sucht: Tiere sterben – und was stirbt, ist – so der unaussprechbare Verdacht – vielleicht auch ein Tier? Das Eigenleben der Begriffe, die eine solche Conclusio ermöglichen, rührt an die tiefsten Ebenen des menschlichen Bewusstseins und präsentiert eine schiere Ungeheuerlichkeit: Mit den Tieren sterben immer auch die Menschen. Selbst wir fühlen im Angesicht sterbender Tiere jenes urtümliche Erschrecken: Blickt uns aus den Winkeln der Tieraugen etwa das Nichts an? Erkennt der menschliche Blick in den sterbenden Tieren jenen Mangel an Sein, eine Spur jenes Nichts, aus dem doch letztlich beide hervorgerufen wurden?
Grund zu einer kritiklosen Naturemphase gibt es wahrlich nicht; der Anblick toter oder sterbender Tiere dürfte die schnellste Kur gegen derart blumige Naturromantizismen sein. Schönheit und Schrecken gehen in dem, was wir „Natur“ nennen, ineinander über. Unsere Wahrnehmung kippt mitunter von einer Sekunde auf die nächste, und was zuvor schön und erhaben schien, gibt sich sogleich als urtümliches Grauen einer alles zermalmenden Wirklichkeit zu erkennen. Oft lassen sich beide Eindrücke aber auch gar nicht voneinander trennen, wie jeder weiß, der nur einmal aufmerksam einen Strand abgeschritten ist. Die sandigen Küstenabschnitte, die so erhaben auf uns wirken, sind doch immer auch die zertretenen Grabstätten von unzähligen Muscheln, deren Kalkhüllen sich hier mit den Gesteinsstückchen feinsten Sandes mischen. Es wäre zumindest nicht falsch zu behaupten, dass jene Küstenstreifen unüberschaubaren Friedhofsarealen gleichen. Ergriffenheit und Erschütterung gehen Hand in Hand in der Erfahrung dessen, was wir landläufig Natur nennen; in ihr scheint die Ambivalenz von Sterben und Lebendigkeit zutiefst verwoben zu sein. In unserer Erfahrung mit den Tieren scheint sich diese irritierende Erfahrung bis ins Unerträgliche zuzuspitzen.
Eine Reise ins Herz der Finsternis
Die großen Tiernarrative der Moderne lassen sich auf zwei wesentliche Formeln bringen: Tiere sind dem Menschen Sinnbild für die pure Lebendigkeit, die überbordende Fülle und wilde Freude des Lebens, die glückselige Unmittelbarkeit jener Gebundenheit an den Pflock des Augenblicks, von der Nietzsche beinahe sehnsüchtig sprach.4 Zugleich konfrontieren sie ihn mit dem Schrecken der Kontingenz, der Leere und der Auslöschung des Lebens. Unter den Händen sterben uns die Tiere weg, widersetzen sich dem Wunsch selbst der ihnen wohlgesonnenen Menschen; eine letzte Spritze vom Tierarzt ins Herz einer Katze, und was zuvor lebte, ist vergangen. Ein solches Verschwinden ist selbst fast ein Nichts, das Wegbrechen des Lebendigen innerhalb eines einzigen Augenblicks; und wer erst einmal erlebt hat, wie jemand derart ins Nichts verschwindet, dem ist eben dieses Nichts bereits auf den Fersen.