Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik

Die falsch gestellten Weichen - Von Kuehnelt-Leddihn Erik


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Frage“ drehte sich dort um das Problem Großdeutschland-Kleindeutschland. Die Kleindeutsche Lösung, die 1871 verwirklicht wurde, war die Errichtung eines (Zweiten) Deutschen Reiches unter preußischer Führung. Echt konservative Elemente lehnten dies ab. Selbst ein preußischer König wie Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Königsthron“, der sich geweigert hatte, die Krone aus der Hand der Bundesversammlung, „aus der Gosse“, anzunehmen (wie zum Beispiel Louis-Philippe, der sich vom Parlament hatte wählen lassen), erklärte rundweg, daß er doch nicht deutscher Kaiser werden könnte, solange ein Kaiser in Wien residiere.15) Und es war natürlich selbstverständlich, daß die gemäßigte Linke nach Berlin blickte, wie es ja auch seinerzeit die Französischen Revolutionäre getan hatten, denn Berlin, so anders als Wien, war doch ein Hort des Fortschritts.16) Die extreme Linke träumte natürlich von einem zentralistischen Deutschland, in dem die Fürstentümer den Weg allen Fleisches gegangen waren. Diese wären ohne Zweifel ein großes Hindernis auf dem Wege zu einer engmaschigen deutschen Einheit gewesen und hatten doch dauernd mit Reichsfeinden paktiert (die Preußen ganz obenauf!), aber was wäre Deutschland (auch heute) ohne diese separatistischföderale Entwicklung gewesen und geworden, und dasselbe kann man auch von Italien sagen. Heute gibt es in Frankreich kaum ein Geistes- oder Kulturleben von Bedeutung außerhalb von Paris, in England außerhalb von London.17) Es versteht sich jedoch von selbst, daß die katholischen Länder des Deutschen Bundes ein Großdeutschland anstrebten, in dem das katholische Element das Übergewicht gehabt hätte. Doch gab es auch konservative Elemente im evangelischen Deutschland, die für Wien und gegen Berlin waren; die gab es selbst in Preußen.18)

      Die Revolution in Böhmen wurde mit Leichtigkeit, die in Berlin unschwer, die in Wien schon schwerer, die in Italien mit Erfolg kriegerisch bekämpft, denn da gab es eine bewaffnete Intervention vom Königreich Sardinien.19) Die größte Gefahr für das österreichische Kaisertum kam jedoch von Ungarn. Hier rächte sich der imperiale Austriazismus am meisten. Obwohl auch diese Revolution einen gemäßigt linken Charakter hatte, war dort der hohe und niedere Adel in seiner überwiegenden Mehrheit auf der Seite der „Aufständischen“. Die Ursache dieser Revolution war staatsrechtlichen Charakters. Der Wiener Zentralismus, der auf die Aufklärung und den überaus fortschrittlichen Joseph II.20) zurückging, war stets bestrebt, die ungarische Autonomie zu beschneiden. Nun hatte Wien auf eine ultimative Aufforderung des ungarischen Reichstags hin beschlossen, dem Land eine weitgehende Selbstverwaltung zu geben. Der Kaiser und König Ferdinand hatte dazu Ja und Amen gesagt. Das aber wollten die im ungarischen Staatsverband lebenden Kroaten nicht und rebellierten unter der Führung ihres Banus Jellačić. Das gab dem Wiener Hof wieder den Mut, die Zusage rückgängig zu machen, was aber einem Wortbruch des Monarchen gleichkam. Um der strafferen, magyarischen Herrschaft zu entkommen – die lateinische Amtssprache war 1844 durch die magyarische ersetzt worden –, fingen Ungarns Nationalitäten an, sich mit Wien gegen Pest zu verbünden. Die Einheit Ungarns war nun durch Wien bedroht, es folgten eine Unabhängigkeitserklärung und ein Sezessionskrieg, mit denen die österreichische Armee, die zugleich in Böhmen, Wien und Italien beschäftigt war (auch in Galizien gab es Unruhen), nicht fertig werden konnte. Prinz Alfred zu Windisch-Grätz21) wurde nach etlichen Siegen und Niederlagen durch den Freiherrn von Weiden, dieser wiederum nach dem Verlust von Ofen (Buda) durch Haynau ersetzt, ein natürlicher Sohn des Kurfürsten Wilhelm I. von Hessen. Haynau siegte im Westen Ungarns, die Russen fürchteten einen Parallelaufstand in Kongreßpolen und kamen deshalb Wien zu Hilfe, und ihnen ergab sich dann die ungarische Armee. Ungarn wurde dann fast 18 Jahre hindurch diktatorisch von Wien aus verwaltet – bis es 1867 zum „Ausgleich“ kam. Damals also wurde die „Österreich–Ungarische Monarchie“ geboren. Das einigende Band der beiden Länder wurden die Dynastie, die Armee, die gemeinsame Außenpolitik, die Zollunion, die Notenbank und (später) die gemeinsame Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina.

      Gerade in der unwahrscheinlich dummen und zudem auch brutalen Behandlung Ungarns nach der Revolution von 1848–49 zeigte sich die große politische Schwäche der Monarchie, die eben in Wirklichkeit konzeptlos war. Nach dem Schweizer Sonderbundskrieg von 1847 und – viel später – nach dem Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten wurde keiner der besiegten Generäle gehenkt. Anders im Falle Ungarns: Es wurden nicht nur der Ministerpräsident Graf Ludwig Batthyány sondern auch dreizehn Heerführer in Arad hingerichtet, von denen die Mehrzahl keinen magyarischen Namen hatte. Zwei von ihnen waren armenischer Abkunft, zwei andere konnten kaum ungarisch sprechen.22) Das Trauma der Aradi vértanúk der „Arader Blutzeugen“, die als „Verräter“ zumeist am Galgen starben, brauchte hundert Jahre um überwunden zu werden.

      Doch auch die ungarische Revolution war falsch angelegt gewesen, und zwar besonders durch die Abschaffung der Monarchie. Wir erwähnten schon die Ersetzung des Lateinischen durch das Ungarische als Amtssprache. Auf einmal wurden sich zahlreiche Ungarn bewußt, daß sie nicht Magyaren waren und nun eine äußerst schwierige nicht-indogermanische Staatssprache zu erlernen hatten, denn von den „Nationalitäten“ wurde erwartet, daß sie sich mehr oder weniger „magyarisierten“. Natürlich erweckte das heftige Reaktionen. Es führte schließlich zur Katastrophe des „Friedens“ von Trianon, der das tausendjährige Ungarn in Stücke riß.

      Hinter dieser Tragödie des Jahres 1920 steckte auch eine semantische Falle. Auch im Tschechischen gibt es nur ein Wort für „böhmisch“ und „tschechisch“ – český. Im Magyarischen gibt es ebenfalls keinen Unterschied zwischen den Worten „ungarisch“ und „magyarisch“ – nur das Wort magyar. Ein deutschsprechender Ungar bezeichnete sich nicht als Magyare, sondern als Ungar oder „Ungarländer“. (Deutschrussen waren „Rußländer“, der schwedischsprechende Bürger Finnlands nennt sich Finnländer.) Nach der Katastrophe von Trianon dachten kluge Magyaren daran, ihr Land nach einer Wiedervereinigung (lateinisch) Hungaria zu nennen.23) In diesem Hungaria gäbe es dann ein Magyarország, Slovensko, Erdély-Ardealu-Siebenbürgen und so weiter. Eines aber ist in all diesen Spekulationen völlig sicher: Wie schon John Stuart Mill hervorgehoben hatte, ist der multinationale Staat auf einer demo-republikanischen Grundlage kaum denkbar.24) (Dagegen spricht nur das Beispiel der Schweiz, die uns nur zu oft als Irrlicht gedient hat, denn sie kann nicht kopiert werden.)25) Ist doch die parlamentarische Demokratie essentiell nie direkte oder indirekte Herrschaft des ganzen Volkes, sondern lediglich die Herrschaft einer Mehrheit über die Minderheit – mit dem Trost, daß die Minderheit von gestern die Mehrheit von morgen sein kann. Dieser Trost fehlt aber mehr oder weniger im multinationalen Staat, in dem die Parteien einen nationalen (ethnischen) Charakter angenommen haben. Hier tritt dann eine gewisse „Unverrückbarkeit“ ein, ein Phänomen, das allerdings auch dort auftritt, wo die Parteien Klassenparteien geworden sind. In einem ganz überwiegend bäuerlichen Land werden dann nur zu wahrscheinlich Bauernparteien permanent regieren usw. Da aber Ungarn unter Kossuth eine Republik geworden war, wäre ein im Kampf gegen Wien siegreiches Ungarn zeitlich noch viel früher am Nationalitätenproblem gescheitert… analog dem alten Österreich.

      Gerade vor dem Ausbruch der Revolution im Jahre 1848 fand das denkwürdige Duell zwischen zwei Führern statt – zwischen Ludwig Kossuth und dem Grafen Stephan Széchenyi. Beide waren in der Opposition gegen den Wiener Zentralismus, aber mit sehr verschiedenen Vorzeichen und Methoden. Kossuth war ein kleiner evangelischer Advokat slowakischer Abstammung,26) Széchenyi hingegen ein Aristokrat mit Welterfahrung, der den Kampf Ungarns um Gleichberechtigung mit der besten und legitimsten Waffe ausfechten wollte: mit der Wirtschaft. Széchenyi war kulturell englisch orientiert. Sein frühes Hauptwerk war der Bau der Kettenbrücke, die Ofen (Buda) mit Pest verband, ein damals einzigartiges technisches und finanzielles Unternehmen, das auch ein adeliges Privileg durchbrach: Alle, auch Adelige, mußten zwei Kreuzer für die Benützung zahlen. Die Formel, daß der Adel dem Land mit seinem Blut, der Bürger aber mit dem Geld dient, war damit zusammengebrochen. Széchenyi wußte genau, daß ein wirtschaftlich starkes Ungarn von Wien nicht mehr restlos abhängig sein mußte. (Nach dem Verlust Venetiens und der Lombardei war Ungarn größer als Österreich, und Pest, nicht Wien, war der geographische Mittelpunkt der Gesamtmonarchie.) In diesem Zweikampf zwischen Kossuth und Széchenyi siegte natürlich der Demagoge, der auch der Mann war, der die Grundlage zu dem tödlichen Nationalitätenproblem geliefert hatte. Kossuth floh nach dem Zusammenbruch der


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