Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik
mit ihrem großen Vermögen dem Staat gegenüber steuerpflichtig geworden. So haben wir zum Beispiel den Fall eines Leibeigenen des Grafen Scheremetjew, der seine Freiheit nach langer Überlegung mit 135 000 Rubel kaufte.9) (Auch er besaß wieder Leibeigene, dushi, d. h. Seelen.) Dieser Betrag war im alten Goldwert ungefähr 1 Million Mark, in heutigen D-Mark aber unvergleichlich mehr. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 lebten auch längst Unmengen von Leibeigenen in den Städten, keineswegs immer als „Proletarier“, sondern sehr oft in der Eigenschaft von Bankiers, Großkaufleuten, Intellektuellen usw.
Die russische Gesellschaft konnte eben mit der westlichen in keiner Art und Weise verglichen werden; unsere Klischees waren für den Osten unverwendbar. Nicht nur war der westliche Begriff einer Plebs in Rußland unbekannt,10) die Gesellschaft war auch völlig „gemischt“.11) Man konnte ein Fürst, aber nicht beliebt sein, und so blieb man „draußen“, oder noch als Leibeigener geboren, aber witzig, begabt und sympathisch und war deshalb „drinnen“. Auch die Frauen spielten gesellschaftlich eine viel größere Rolle als in „demokratischen“ Ländern.12) Wie mobil die russische Gesellschaft war, ersieht man sehr deutlich, wenn man die Struktur der Schülerschaft in den Gymnasien betrachtet. Schon längst vor der Revolution war der Sektor der Bauernsöhne unvergleichlich höher als bei uns,13) doch sollten diese Dinge unsere angeblich so Gebildeten schon aus der aufmerksamen Lektüre der großen russischen Romane und Theaterstücke wissen. Bei Dostojewskij finden wir eine völlig gemischte Gesellschaft und nicht minder so bei Tolstój oder Turgénjew. In der Anna Karénina sehen wir den kalten Snob Serpuchówskij, der von einer Reise zurückkehrend seinen Diener auf die Lippen küssen muß, dann sich aber schnell mit einem seidenen Taschentuch den Mund abwischt.14) Die Gutsbesitzerin, die in Tschechows „Kirschgarten“ aus Paris zurückkommt, küßt auch den alten Kammerdiener und nennt ihn „liebes Greischen“ (staritschók),15) Mit den Bauern duzte man sich oft gegenseitig, und wenn man am Lande eingeladen war (und dort gerne Wurzeln schlug), küßte man zum Abschied auch die alte Köchin, die einen mit Vornamen und dem Patronymikon ansprach. Einem ungarischen Kommunisten sagte ein Russe, daß die alte Regierung brutal war, aber eines gab es nicht: Arroganz.16) Die alte Gesellschaft war brüderlich, aber mit dem Bolschewismus wurde es anders, denn man war nicht mehr in Christus brüderlich vereint, zwar nicht mehr unbedingt reicher oder ärmer, sondern mächtiger oder ohnmächtiger, beziehungsreicher oder beziehungsärmer – durch die Partei und die bürokratische Hierarchie. Damit hörte sich dann jede Brüderlichkeit auf.
Auch der Arbeiterklasse ging es nicht halb so schlecht, wie man sich das bei uns vorstellt. Die russische Industrie war klein, aber nicht winzig; die Eisenindustrie war sogar beträchtlich. Dort wurde zur Zeit der Großen Katharina eine Woche hindurch am Tage zwölf Stunden, in der folgenden Woche in der Nacht zwölf Stunden, in der dritten Woche aber überhaupt nicht gearbeitet – was auf einen Achtstundentag herauskommt.17) Soziale Gesetze für die Arbeiterschaft gab es in Rußland früher als im Westen. Schon unter der kurzen Herrschaft der Kaiserin Anna Leopoldowna im Jahre 174118) wurden strenge Schutzgesetze für die Fabriksarbeit aber auch für die Landwirtschaft erlassen.19) Tatsache aber ist es, daß zahlreiche Reisende, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Westen besuchten, vom niedrigen Lebensstandard der dortigen Arbeiter und Bauern entsetzt und erschüttert waren.20) Freilich gab es Schwierigkeiten auch nach der Beendigung der Leibeigenschaft: selbst nicht faule und dem Alkohol abholde Bauern konnten als Folge der damit verbundenen Agrarreform die Ablöse für ihre Parzellen nicht pünktlich zahlen. Ein besonderes Übel war jedoch der Mir,21) der Gemeinbesitz der Dörfer, der alljährlich neu verteilt wurde. Wer heute ein Stück Land bebaute, bekam im folgenden Jahr ein anderes. Dies wurde als „gerecht“ befunden, endete aber damit, daß niemand mehr das Land pflegte. Hingegen gefiel den Sozialisten die Einrichtung des Mir als eine Basis des Sozialismus, und seine Abschaffung durch Stolypin wurde von ihnen als „kapitalistisch-individualistische“ Herausforderung betrachtet.
Wenn wir in Rußland dennoch einem raschen Wachstum linker Ideen anarchischer oder sozialistischer Art begegnen, so hat dies mit einem rein ideologischen Wachstum zu tun. Ideas have consequences. Die Überzeugung, daß Ideen unbedingt einen geeigneten Nährboden haben müssen, um sich richtig ausbreiten zu können, fußt auf einem Ammenmärchen, dessen uneingestandener Zweck es meistens ist, in höheren Schulen Halbwüchsigen die Weltgeschichte auf eine recht primitive (aber sofort einleuchtende) Art verständlich machen zu können.
Die linken Ideen, die in Rußland zum erstenmal in der Aristokratie Wurzeln gefaßt hatten, ergriffen nun die neue Intelligentsija der Halb- und Dreiviertelgebildeten, von Idealisten, die sich für das „Volk“ begeisterten und „ins Volk gingen“. Darunter gab es zahlreiche Vertreter des Kleinadels, junge Männer und Frauen, denen auch die „Propaganda der Tat“ zusagte.22) Vergessen wir nicht, daß Bakunin und Kropotkin Edelleute waren, daß der ältere Bruder Lenins, Alexander Iljitsch Uljanow, der sich an einem Mordkomplott gegen den Kaiser beteiligt hatte, dem Erbadel angehörte, daß der große Inspirator der Linken, Graf Leo Tolstoj, nicht gerade ein Proletarier war, sondern den Typ des „reuigen Edelmanns“ verkörperte, daß aber die Giganten der russischen Geisteswelt – Solowjów, Dostojewskij, Leóntjew, Chomjaków, Mereshkowskij – alle rechts standen.
Leroy-Beaulieu nannte nicht nur den Kleinadel als Klasse, die viele Revolutionäre hervorbrachte, sondern auch die Juden.23) Diese waren rechtlich in vieler Beziehung behindert. So durften sie nur in den westlichen Gouvernements dauernd leben, im großen und ganzen in den Gebieten, die durch die polnischen Teilungen an Rußland gekommen waren. Eine Ausnahme bildeten die Akademiker (Maturanten)24) und die Kaufleute erster Klasse. So gab es eine sehr emanzipierte jüdische Gesellschaft in Petersburg und in Moskau, die auch Kontakte zur russischen Gesellschaft hatte. Für das Universitätsstudium gab es einen Numerus Clausus, der aber mit zehn Prozent recht weitherzig war. Wer sich taufen ließ und orthodox wurde, hatte praktisch freie Bahn. Beispiele dafür sind die Karrieren der beiden Rubinsteins, berühmte Musiker, die in den höchsten Gesellschaftskreisen verkehrten: Antoni und Nikolaj. Nikolaj wurde Direktor des Moskauer Konservatoriums, Antoni heiratete eine Fürstin Tschekuanow.25) Auch die Frau des Ministerpräsidenten Graf Witte war eine Jüdin. Juden konnten zwar nicht Grundbesitzer sein, doch dieses Gesetz wurde oft durchbrochen. So war Trotzkijs Vater ein reicher Großbauer (der nie Sozialist wurde), der 250 Joch besaß und noch 400 dazu pachtete.26) Es war aber natürlich, daß Juden sich liberalen und sozialistischen Gedanken nicht verschlossen, wenn sie ihren Glauben verloren. Ihr Prozentsatz im städtischen Proletariat wie auch in der Intelligentsija war außerordentlich hoch. Das Christentum, die Monarchie, das ganze „Establishment“ des Russentums mußte ihnen als „der Feind“ erscheinen. Die wütenden Volksaufstände gegen arme, zumal auch fromme Juden gerichtet, die „Räubereien“ (pogrómy), die von den staatlichen Behörden oft toleriert wurden, machte sie zu Revolutionären und ließ später viele in den Reihen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) aufscheinen.
Ein anderes revolutionäres Element waren die Mädchen und Frauen, die sich auch gerne (wie in unseren Tagen hierzulande) an Terrorakten beteiligten. Besonders bei den SR, den Sozialrevolutionären, viel mehr als bei den Sozialisten, spielten sie eine große Rolle. Die Studentin Wjera Zassúlitsch versuchte den Petersburger Stadthauptmann Trjepow zu27) erschießen, doch dank einer glänzenden Verteidigung wurde sie freigesprochen. (Rußland versuchte damals noch ein Rechtsstaat zu sein.) Hier aber muß man sich vor Augen halten, daß so viele Ausländer den Frauen in Rußland größere Energie zusprachen als den Männern.28) (Auch in den russischen Romanen sind die Frauen sehr oft die stärkeren.)
Zu bemerken ist aber hier auch, daß die Russen im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht ganz und gar keine geborenen Kollektivisten sind und daß schon deshalb die anarchistisch-nihilistischen Richtungen in Rußland sehr deutlich die Oberhand hatten. Anfänglich waren die Narodnaja Wolja und die Sozialrevolutionäre Bewegung führend. Diese Organisationen waren es auch, welche für die politischen Morde verantwortlich waren. Keineswegs waren es die unromantischen Mitglieder der RSDAP. Diese hatte auch bis 1917 keinen einzigen Märtyrer zu beklagen, denn echte Marxisten wollen „wissenschaftlich“