Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik
von großer Intelligenz, Energie und Charakter, der sich in vielem radikal von seinem Onkel, dem Kaiser Franz Joseph, und noch mehr von seinem unglückseligen Vetter, dem Kronprinzen Rudolf unterschied. (Beide, Kaiser und Kronprinz, waren „Liberale“, wenn auch von verschiedener Schattierung.) Vielleicht, so müssen wir uns sagen, wäre es besser gewesen, wenn der greise Kaiser im Jahre 1900 oder 1908 nach seinem diamantenen Regierungsjubiläum gestorben und sein Neffe ihm nachgefolgt wäre. Dieser hatte den Plan gefaßt, nach den Trauerfeierlichkeiten, die dem Tod des Kaisers gefolgt wären, eine kurzlebige Militärdiktatur auszurufen – und dies noch vor einer Krönung in Ofen,16) denn bei dieser Gelegenheit hätte er einen Eid auf die ungarische Verfassung geben müssen. Der Plan Franz Ferdinands war es, die Donaumonarchie in einen Föderalstaat mit habsburgischer Spitze umzugestalten, doch ist es bis heute noch nicht klar geworden, wie das im Detail geschehen wäre. Wahrscheinlich hatte diese Neuordnung eher nach historischen denn nach ethnischen Prinzipien erfolgen müssen, denn die Sprachgrenzen in Mittel- und Osteuropa sind so verzahnt, daß sie auch innenpolitisch unbrauchbar gewesen wären. Dieser Raum ist national überhaupt nicht zu ordnen, denn nicht nur gibt es dort sprachliche Inseln und Halbinseln, sondern oft sind auch die Sozialschichten ethnisch bestimmt. So gab es zum Beispiel in Ostgalizien nur ein ganz ephemeres ukrainisches Bürgertum, Großbürgertum und Adel und in Triest nur ein slowenisches Proletariat und Kleinbürgertum. Oft gehörten die Städte der einen und die umliegenden Dörfer einer anderen Nationalität an. Auch veränderten sich die Vérhältnisse dauernd. Am Anfang des 19. Jahrhunderts waren Prag und erst recht Brünn vorwiegend deutsche Städte, die erst mit der Zeit tschechisiert wurden.
Ungarn beziehungsweise die Länder der Heiligen Stephanskrone hätten in einer solchen Reorganisation der Doppelmonarchie ein besonders schwieriges Problem gebildet. Die Beziehungen zwischen Franz Ferdinand und Ungarn waren sehr delikater Natur, doch wäre es eine grobe Vereinfachung zu behaupten, daß sie ganz einfach schlecht waren. Der Thronfolger war ein tief gläubiger katholischer Christ, dem die magyarischen Nationalisten (die „Achtundvierziger“), die jüdisch-progressistische Presse, die antikirchlichen Liberalen und die reformierten Kreise, die habsburgfeindlich eingestellt waren, im Herzen zuwider gewesen sind. Doch sprach der Thronfolger ungarisch (eine Sprache, die ihm sein Lehrer, der Bischof Lányi von Großwardein, beigebracht hatte) und er hatte in seinem Kreis im „Belvedere“ in Wien, wo er amtierte, auch eine Anzahl von Ungarn um sich. Einer dieser war der ungarische Innenminister Josef Kristóffy, der ihm in einem Buch ein wahres Denkmal gesetzt17) und von der Anklage der Ungarnfeindlichkeit freigesprochen hatte. Unklar ist es allerdings, ob der Thronfolger das Verhältnis zwischen Ungarn und Kroatien gelokkert hätte, um dann aus Kroatien, Dalmatien und Bosnien einen Teilstaat der Monarchie zu machen – was die serbischen Nationalisten natürlich fürchteten und schließlich auch zu seiner Ermordung führte. Zweifellos hätte sich Franz Ferdinand in Prag zum König von Böhmen krönen lassen. (Die Familie seiner Frau, die Grafen Chotek, waren Tschechen.) Sicherlich war es von Seiten Franz Josephs ein schweres Versäumnis gewesen, sich nicht in Prag, auch einer alten Kaiserstadt, krönen zu lassen. Dagegen agierten vor allem die Deutschnationalen in ihrer großen Kurzsichtigkeit.
13. DAS ALTE RUSSLAND
Wie ging es nun in Rußland weiter, das sich nach den napoleonischen Kriegen mit „Kongreßpolen“ vergrößert hatte. Finnland war allerdings schon 1809 als völlig autonomes Großfürstentum zu Rußland gekommen. Der Kaiser von Rußland1) war somit auch der König eines sehr stark verkleinerten Polens und Großfürst (Suurruhtinas) von Finnland – womit Rußland wieder einmal weiter nach Westen vordrang. Alexander I., der 1825 in Taganrog „starb“,2) wurde durch Nikolaus I. abgelöst, der einer Verschwörung von Adeligen (geführt vom Fürsten Sergej Nikolajewitsch Trubetzkoj) und einer Reihe von Intellektuellen gegenüberstand. Diese „Dezembristen“ (Dekabristy) wollten teilweise eine konstitutionelle Monarchie, zum Teil aber eine Republik in Rußland einführen. Viele von ihnen waren Freimaurer. Alexander I. war tief religiös, ein Träumer, Nikolaus I. eng konservativ und kirchlicher gesinnt als sein Vorgänger. Dieser Aufstand, der nur zu geringem Teil von der Armee unterstützt wurde, scheiterte völlig; einige von den Anführern wurden hingerichtet, viele nach Sibirien verbannt. Doch Nikolaus verstand sich als „strenger Vater“: Einer der Verschworenen wurde ihm in Ketten im Winterpalast vorgeführt, sie beteten zusammen in einer Kapelle, dann umarmte und küßte der Kaiser den Verurteilten, gab ihm seinen Segen, wünschte ihm Einkehr und Reue und übergab ihn dann seinen Wächtern. Manche der Frauen begleiteten ihre Männer in die Verbannung.
1830 brach jedoch die Revolution in Kongreßpolen aus, die mit ziemlicher Mühe niedergeschlagen wurde. Das war die Zeit der „Polenlieder“, die Deutschland begeisterten.3) Dennoch ging die Fiktion eines vom russischen Kaiser regierten „Königreichs Polen“ nicht verloren. Damals hatte die französische Juli-Revolution in Polen zündend gewirkt, 1848 aber wagte niemand gegen den Herrscher aufzutreten, der das Land mit eiserner Hand regierte, während es überall im Westen, selbst in England, Unruhen, Rebellionen und Revolutionen gab. Dann kam der Tod Nikolaus I. mitten im Krimkrieg und die Regierung Alexanders II., des „Befreier Zaren“ (Tsarj Oswoboditelj), der auf einen schleunigen Frieden drang, der Rußland territorial aber nur die Donaumündung in Südbessarabien kostete. Das große Ereignis in der russischen Geschichte war jedoch die Beendigung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 durch kaiserlichen Ukáz.
Wir müssen uns aber vorstellen, daß die Leibeigenschaft in Rußland recht spät kam, erst mit dem Ende des 16. Jahrhunderts und primär von der Regierung als Steuereintreibungsmethode und nicht von den Grundbesitzern gefordert wurde. Es gab zwei Regelungen der Leibeigenschaft: die Abgabe des Obrók in Geld (pro männlichen Kopf) oder die bárschtschina, die Arbeitsleistung. Auf jeden Fall war der Gutsbesitzer der Mann, der die Steuer an den Staat ablieferte. Pro Bauernfamilie war ein Minimum von 12 bis 15 Hektar vorgesehen. Die Leibeigenschaft gab es jedoch nur im Zentrum und im Westen Rußlands, nicht aber im hohen Norden, fernen Osten oder tiefen Süden in den Kosakengebieten. Weder die deutschen Kolonisten noch die Russen Sibiriens kannten die Leibeigenschaft. Eine sowjetische Schätzung spricht von 55 Prozent der Bauernschaft, die hörig, und von 45 Prozent, die am Anfang des 19. Jahrhunderts frei waren.4) Ursprünglich war das Verhältnis zwischen dem Gutsbesitzer und der Bauernschaft patriarchal, verschlechterte sich aber durch den Absentismus der Gutsbesitzer, die oft herzlose Verwalter anstellten. (Viele von diesen waren Deutsche, manche auch Polen.5))
Man kann aber den Charakter und die Stellung der Bauernschaft nur dann verstehen, wenn man sich die soziale Gesamtstruktur des alten Rußlands vor Augen hält. Der Adel hatte dort seit dem Sturz des Bojarentums unter Iwan dem Dräuenden6) nicht annähernd die Bedeutung, die er im Westen hatte. Er war sehr zahlreich. In der Beamtenschaft (dem Tschin) wie auch beim Militär erfolgte die Nobilitierung (die persönliche als auch die erbliche) automatisch. Bei dem großen adeligen Sektor der Bevölkerung (der Prozentsatz mag allerdings niedriger als in Polen gewesen sein) darf man sich auch nicht wundern, daß dann später bei den Bolschewiken zahlreiche Adelige auftauchten. Sie genossen an und für sich, wie schon Leroy-Beaulieu urteilte, kein besonderes Prestige. Oft waren hohe Adelige (auch Fürsten) bettelarm und unterschieden sich kaum von freien Bauern. Andere waren sehr reich, wie zum Beispiel die Scheremetjews. Noch viel zahlreicher aber war der Adel in Georgien, und nur der Eingeweihte (nicht aber der Ausländer) wußte „wer wer“ war.7)
Die Leibeigenen unterstanden zwar bei kleinen Vergehen der Gerichtsbarkeit des Gutsherren (mit dem sie sich oft duzten oder ihn mit dem Patronymikon anredeten), die Prügelstrafe war auch vorgesehen, aber wer einen Bauern erschlug, wurde mit dem Tode bestraft. (Manchmal erschlugen aber Bauern einen unangenehmen Gutsherren.)8) Man vergesse hier nicht, daß die Leibeigenschaft in Rußland nur 13 Jahre nach der Bauernbefreiung im österreichischen Galizien, aber zwei Jahre vor der Aufhebung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten stattfand – und die Sklaverei war unvergleichlich härter. Leibeigene waren zwar (im Prinzip) glebae adscripti, an die Scholle gebunden, durften aber abgesehen von ihrem eigenen Land auch anderswo eigenen Besitz und überdies eigene Leibeigene haben – und so weiter. Im 18. Jahrhundert gab es ganze Hierarchien von Leibeigenschaften. Manche dieser Leibeigenen (genau so wie die Plebejer