Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik
nicht umsonst haben Frankreich und das Deutsche Reich auch eine gemeinsame geschichtliche Wurzel im karolingischen Reich, und findet man in der französischen Sprache zahllose Worte germanischen Ursprungs, deren deutscher Charakter allerdings durch Lautverschiebungen oft stark entstellt ist.17) Über die Geschichte der Germanophilie in Frankreich ist schon viel geschrieben worden, ohne Zweifel mehr als über die Frankophilie in deutschen Landen.18)
15. DAS GROSSE BRITANNIEN
England und seine „Nebenländer“ – Schottland, Wales, Irland – gingen durch eine ganz andere Phase als Frankreich. Noch unter der Regierung Georgs IV. war England ein freidenkerisch-ausgelassenes Land aristokratischen Charakters mit heidnischen Untertönen. Die „Adelsrepublik“ von 1688, diese Schöpfung der Glorious Revolution, dauerte an. Das ist das England von Coleridge, Shelley, Wordsworth und Byron, einer späten Romantik und eines gesteigerten Reichtums. Von Wilhelm IV. konnte die Times in ihrem Nachruf noch sagen, daß er ein wenig begabter Mann war, wenn auch sittlich einwandfreier als sein Vorgänger. Ein derartiges Urteil wäre heute selbst in einer kommunistischen Zeitung Englands undenkbar, denn der Monarch ist inzwischen eine sacred cow geworden, recht machtlos aber ein wahrhaft geheiligtes Symbol!
Diese Entwicklung von der Monarchie zur Aristokratie im Sinne der Adelsherrschaft (von Plato, Aristoteles und Polybius als naturgemäß erkannt) hat seine Wurzeln in der Magna Carta von 1215, die in unseren Schulbüchern fälschlicherweise als „Beginn der Demokratie“ angesehen wird. Das aber war sie ganz und gar nicht, denn sie gab Privilegien der Kirche und dem Adel und einige kleinere Rechte den freemen, den Freisassen. Sie beschnitt die Geldprivilegien der Juden (Artikel X und XI) und minderte recht radikal die juridische Stellung der Frau (LIV). Die Magna Carta (nicht „Charta“!) war also gewissermaßen ein liberales Dokument, das die Freiheitlichkeit förderte, nicht aber die Demokratie, die sich für die Gleichheit und die Mehrheitsherrschaft einsetzt.
So viel über das englische Mittelalter. Kommen wir aber zum 19. Jahrhundert zurück.
Nun folgte 1837 das Régime der Königin Viktoria, eigentlich einer deutschen Prinzessin aus dem Hause Hannover, die wiederum einen Deutschen, Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, heiratete, und mit diesem fraulichem Régime kehrte allmählich die alte puritanische Sittenstrenge in England heim. Das hatte aber auch seine tieferen Beweggründe. Victorianism bedeutete auch eine weitere Industrialisierung, eine rapide Vermehrung der Arbeiterklasse und den Aufstieg eines Unternehmertums, das sittenstreng, asketisch und vom Lebensernst erfüllt war. Diese homines novi kamen jedoch nur in den seltensten Fällen aus den Kreisen der Gentry, ja sehr oft auch nicht aus dem anglikanischen Bürgertum: Es waren Kleinbürger, chapel people, „Nichtkonformisten“, die dem Glauben nach Baptisten, Methodisten, Kongregationalisten, Quäker oder auch Mitglieder der sehr evangelisch (und antikatholisch) ausgerichteten Low Church waren. Frivolität lag ihnen fern. Und mit diesem Aufstieg wurde nun auch die Staatskirche ernster, was zu einer sehr allgemeinen religiösen Renaissance führte, von der schließlich auch die katholische Kirche profitierte. Die Vierzigerjahre waren durch die (alte) Oxford-Bewegung charakterisiert, aus der Newman hervorgegangen war und die eine nicht geringe Anzahl von Anglikanern ins katholische Lager brachte. Selbst in der Aristokratie begann man den Glauben ernster zu nehmen.
Diese neue, gesellschaftlich kaum respektierte Fabrikanten- und Händlergeneration, die sich aber planmäßig an die alten Führungsschichten anglich1) und auch in sie hineinheiratete, gab auch der liberalen Partei einen besonderen Auftrieb. (So manche Konservative versuchten hingegen im Sinne der Tory Democracy sich mit wechselndem Erfolg der Arbeiterklasse anzunehmen.) Man muß sich hier vor Augen halten, daß in den Dreißigerjahren mit ihren radikalen parlamentarischen Reformen die alten Tories sich zu „Konservativen“, die Whigs aber zu „Liberalen“2) gemausert hatten. Dabei aber hatten sich letztere mehr gewandelt als die ersteren. In der Volkssprache sind die Konservativen heute immer noch die Tories, die Liberalen aber längst nicht mehr die Whigs – und dies mit gutem Grund. Die Whigs waren die Partei des wirklich unabhängig denkenden und fühlenden Adels (und Bürgertums), die Tories hingegen die Vertreter des höfisch gesinnten Adels. Deshalb waren allerdings die typischeren Aristokraten die Whigs. Doch die Liberalen wurden langsam, sehr langsam eine vorsichtig linksdrallige Partei – allerdings in so langsamem Tempo, daß sie mit der Zeit von einer neuen, sozialistischen Partei links überholt wurden, der Labour Party, der „Arbeitspartei“. Die Konservativen produzierten im 19. Jahrhundert einige bedeutende Premierminister wie Robert Peel, Disraeli und Rosebery, die Liberalen hingegen Staatsmänner wie Palmerston und Gladstone. Doch erst während des Ersten Weltkriegs mit seiner Ideologisierung wurden die Liberalen eine echte Linkspartei: mit der Ersetzung Asquiths durch Lloyd George.
Nun aber muß man, um die neuere politische Landschaft Großbritanniens besser zu verstehen, sich die großen Klassenunterschiede und die damit verbundenen sozialen Spannungen Englands (eher denn Schottlands) vor Augen halten. Diese Unterschiede sind geschichtlich-rassisch bedingt. Die Urbevölkerung der britischen Inseln, von denen wir sprachlich nichts wissen und nur kulturell eine Ahnung haben, war ein verhältnismäßig kleines, dunkles, wahrscheinlich auch gar nicht indogermanisches Volk. Stonehenge, dieses rätselhafte, monumentale Gebilde in Hampshire, ist in aller Wahrscheinlichkeit ihr Werk, das nicht nur auf hochentwickelte technische, sondern auch auf astronomische Kenntnisse schließen läßt.3) Diese Urbevölkerung siedelte wahrscheinlich auch in Schottland, Wales und Irland. Dann erst kamen die Kelten, die von den Römern innerhalb Englands und Südschottlands unterworfen wurden. Erst in der Mitte des fünften Jahrhunderts kamen aus der Nordwestecke des heutigen Deutschlands größere Einfälle der Angeln und Sachsen, die das 410 von der letzten römischen Legion geräumte Land nicht nur ausraubten, sondern auch besetzten. Kleine Königreiche entwickelten sich, die sich aber wiederum mit Wikingern und Dänen auseinandersetzen mußten. Knut der Große beherrschte nicht nur Skandinavien, sondern auch England.4) Kaum aber war die dänische Herrschaft vorbei, als das schicksalhafteste Ereignis für England eintraf: die Eroberung durch die Normannen, die französisierte Norweger und in der Normandie seßhaft waren. Sie siegten in der Schlacht von Hastings 1066 und wurden dadurch die Herren Englands. Diese großen, blonden Skandinavier aus Frankreich, deren Sprache bis ins 13. Jahrhundert französisch blieb, gaben nun England die „oberste Oberschichte“, die auch heute oft noch äußerlich erkenntlich ist. Erst historisch spät entstand die englische Sprache, eine Synthese aus dem Altsächsisch-Niederdeutschen und dem Französischen, in der die einfacheren und grundlegenden Worte germanisch, die Kulturausdrücke aber romanisch sind und auch heute die Mehrheit bilden.
Man kann sich leicht vorstellen, daß diese fortwährenden Einbrüche und Überlagerungen dazu führten, daß in einer gewissen Beziehung rassische Unterschiede mit Klassengegensätzen verbunden sind, wobei freilich auch geographische Differenzen eine gewisse Rolle spielten. So ist natürlich der Anteil von „nordischen“ Typen in Ost-England viel höher als im Westen und (besonders) in Wales, wo sich bis auf den heutigen Tag die keltische (walisische) Sprache sehr wohl erhalten hat und von einer dreiviertel Million gesprochen5) wird. Und gerade in Wales fällt die eher klein geratene, schwarzhaarige und dunkeläugige Urrasse stark auf. Die englischen Standesunterschiede sind allerdings nicht nur visuell (wobei es überraschende Ausnahmen gibt), sondern vor allem auch sprachlich und selbstverständlich in Bildung und Manieren.6) Gerade deswegen, weil die Adelstitel so spärlich gesät sind – sie gehen bei den nachgeborenen Söhnen und bei der Mehrzahl der Enkel wieder verloren –, werden die spezifischen Manierismen der Oberschichte „subtil betont“ und schaffen gesellschaftliche Abgründe, die natürlich im sozialen Aufstieg wieder überbrückt werden.7) Hier aber muß auch bemerkt werden, daß das „Aufschauen“ der Unterschichten zu den gesellschaftlich Hoch- und Höchstgestellten mit der Zeit geringer und geringer, der Neid und die Animosität aber (besonders von der Arbeiterschaft zu den Managern und Unternehmern) größer und größer wurden. Heute kann man in England von einem Klassenkampf reden, in dem aber der Adel nur mehr Zuschauer ist.
Im 19. Jahrhundert spielte auch das Empire („Weltreich“) eine große psychologische eher denn wirtschaftliche Rolle. Über die Kolonien und den „Kolonialismus“ werden