DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
Fast ein Jahr lang lebte ich zusammen mit den unzähligen dunklen Tannen und den raubeinigen Kameraden in dem tristen Unterstand. Ein größerer Stillstand in meinem Leben hätte nicht eintreten können. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Versorgungsengpässe, all das ließ mich schließlich am Sinn der Mission zweifeln. Hinzu kam der Tod unschuldiger Zivilisten, die auf ihren Schmuggeltouren unseren Schützen zum Opfer fielen. Auch verursachten wir bei einem nächtlichen Überfall den Tod einiger Soldaten der bosnischen Armee. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Es war den bosnischen Truppen gelungen, unser Versteck ausfindig zu machen. Die Vergeltung kam für uns vollkommen überraschend. Rasend vor Zorn brachen die fremden Soldaten in unseren Unterstand ein. Niemand meiner Kameraden überlebte. Nur mich zogen sie als Einzigen lebend aus dem Unterstand und brachten mich zur Schanzenanlage. Dort hinten könnt ihr noch heute sehen, wohin. Das Siegerpodest steht da wie vor über dreißig Jahren, verziert nur durch einige Einschusslöcher.«
Wir folgten erneut der Handbewegung unseres Erzählers und erblickten nicht weit entfernt die Ehrungsstätte. Sie hatte augenscheinlich alles Ungemach der Zeiten weitgehend unbeschadet überstanden, nur die Bodenplatten an ihrer Vorderseite waren an einer Stelle zerstört und zu kleinen Steinchen zerfallen. Hinter dem Podest ragten noch die beiden aus Betonstelen errichteten dreiecksförmigen Elemente auf, die aufeinander zuliefen und durch eine runde Plattform verbunden waren, auf der meinem Eindruck nach ein Ableger der olympischen Flamme gebrannt haben dürfte. Auf einem Element waren noch die olympischen Ringe zu sehen, aber nur, wenn man genau hinschaute, denn die Witterung hatte das Symbol fast bis zur Unkenntlichkeit ausgebleicht.
»Ich wurde auf das Podest des Goldmedaillengewinners gezerrt. Was hätte ich dafür gegeben, neun Jahre zuvor dort stehen zu dürfen. Sie verhöhnten mich als den König der Serben, dem die Ehre zuteilwurde, seine Medaille direkt vom Tod in die Hand gedrückt zu bekommen. Als die Soldaten ihre Gewehre anlegten, erinnerte ich mich wieder an die Vision, die mir in der Luft am Berg Igman dereinst erschienen war. Ich sah mich auf dem Siegerpodest am Auslauf stehend, doch meine Miene war verzerrt und meine Gesichtszüge verrieten Todesangst.«
Sarajevo, Malo Polje 2017
Das Einzige, was darauf hindeutete, dass eben noch ein Mann neben uns stand, war ein letzter Rest von Zigarettenrauch in der Luft, der sich immer weiter verflüchtigte, je länger wir uns ansahen und nach einer Erklärung rangen. Intuitiv blickten wir zum Siegerpodest, weil wir Strahilo aufgrund seiner farbigen Schilderung dort vermuteten. Aber die drei unterschiedlich hohen Plattformen für die Medaillengewinner waren leer. Weder stand dort ein strahlender Gewinner noch ein verängstigter Soldat. Anka und ich einigten uns schließlich darauf, anzuerkennen, was wir bis dahin nie für möglich gehalten hätten. Zu plastisch und real war das Geschehene, als dass es ein Produkt unserer Fantasie hätte sein können. Eine Fantasie, die wir zudem beide genau gleich geteilt hätten. Wir kamen überein, mit niemandem über die Geschichte zu sprechen, nicht einmal mit ihren Verwandten unten in der Stadt. Schnell würden wir zum Gespött der Leute werden, die entweder davon ausgehen würden, jemand habe sich einen üblen Scherz mit uns erlaubt, oder dass wir am Igman schlichtweg verrückt geworden wären.
Für Anka wirkt unsere unheimliche Begegnung jedoch bis heute nach. Sie erkannte, dass der unsinnige Krieg auf beiden Seiten nur Verlierer hervorgebracht und auch der Feind gelitten hatte. Mittlerweile engagiert sie sich in einem integrativen Kulturverein in unserer Stadt, denn will Bosnien als Staat eine Zukunft haben, wird dies nur in einem friedlichen Miteinander aller Ethnien und Religionen gelingen!
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