DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
entsetzliche Angst vor dem, was mir dereinst nach der Landung meines entrückten Fluges im Kreise der Menschen würde widerfahren können. Keine Worte meiner Sprache sind geeignet, diesen Strom an Empfindungen auszudrücken, der sich meiner in der Luft bemächtigte. Was sich vor meinem geistigen Auge derartig lebendig abspielte, war eine Prophezeiung, die mich davor warnen wollte, jemals an diesen Ort zurückzukehren, wollte ich nicht ernsthaften Gefahren für mein Leben ausgesetzt sein.
So schnell, wie die Vision gekommen war, so schnell verschwand sie wieder und es war Zeit, die Landung anzutreten. Leider zu früh, denn für einen Platz auf dem Podium oder gar nur unter den ersten zehn reichte es nicht.«
Sarajevo, Malo Polje 2017
Unser Gesprächspartner brach seine Geschichte unvermittelt ab, als er sich an das Ereignis während der Olympischen Spiele zu erinnern schien. Die Rückblende war ihm offensichtlich unangenehm, denn er schwenkte nun zur Gegenwart.
»Seht euch um!«, forderte er uns auf. »Was ist mit diesem einst so lebendigen Ort geschehen? Was hat der Krieg mit uns gemacht? Die Anlagen der Olympischen Spiele standen mitten im Zentrum der Auseinandersetzungen. Durch dieses Tal verlief die einzige Nachschublinie in die eingekesselte Stadt. Die Serben beherrschten die umliegenden Hügel und schossen auf alles, was sich im Tal und an den Hängen bewegte. Nur die Nacht bot Schutz, doch war es zu jeder Zeit lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Die Kämpfe und die ausbleibende Wartung haben den Bauwerken zugesetzt. Überall kann man die Einschusslöcher der Projektile sehen, die Jugendschanzen wurden vollständig zerstört, die großen Schanzen rotten vor sich hin. Seht euch die Anlaufspuren an, der Beton bröckelt und Moos und Flechten versuchen, dort wieder Land zu gewinnen, wo ich einst mit fast neunzig Stundenkilometern und der Beschleunigung eines Sportwagens entlanggehuscht bin. Ein Bild, das mir in der Seele wehtut. Der Sprungrichterturm ist nur noch ein Schatten seiner einstmaligen Eleganz, ohne Fensterglas schutzlos der rauen Witterung ausgeliefert. Hier hielten sich Blauhelme der UN auf, die während ihrer Mission in dem Tal darüber wachten, dass niemand angegriffen wurde. Das Schild mit der Aufschrift »UN« ist noch zu sehen.«
Wir blickten nach oben, wo das Gebäude in einem desolaten Zustand über die Anlage wachte. Zwischen den zersprungenen Platten der Verkleidung prangte unübersehbar das Schild mit den beiden Buchstaben, dessen Aussage sich mir bis zu der Erklärung des Sportlers nicht erschlossen hatte.
»Am schlimmsten aber war die Leblosigkeit, die seit Ende des Krieges 1995 hier eingezogen ist. Nicht einmal mehr Soldaten hielten sich an der Anlage auf und die Menschen waren so sehr mit Überleben beschäftigt, dass sie weder Zeit noch Kraft hatten, den Ort jenes Ereignisses zu besuchen, das uns als Nation viel Bewunderung in aller Welt eingetragen hat. Kein Sprungwettbewerb hat hier seit den Spielen mehr stattgefunden, die Schanzen wurden nur noch hin und wieder zu Trainingszwecken genutzt. Der aufkeimende Nationalismus und das immer knappe Geld machten alle Bestrebungen zunichte, den Skisprungzirkus hier zu etablieren, was ich mir mehr als alles andere gewünscht hätte. Die grausamsten Hinterlassenschaften des Krieges, die Landminen, machten es sogar gefährlich, hierher zu kommen. Doch es gibt Hoffnung, die Minen sind geräumt und Teile der Bevölkerung können es sich wieder leisten, wenigstens hin und wieder die Seele baumeln zu lassen. Sie kommen seit kurzer Zeit erneut hierher, ganze Familienverbünde und Jugendgruppen, und spielen im Auslauf Fußball oder schlagen Zelte auf. Zumeist streng nach Landsmannschaften getrennt, aber fröhlich und friedlich. Mir scheint, der Ort hätte seine Agonie überwunden. Nur die Melancholie ist geblieben.«
Sarajevo, Malo Polje 1993
Unser Erzähler verstummte erneut und schien nachzudenken. Wir wagten beide nicht, ihn zu unterbrechen, und schwiegen daher.
»Könnte ich noch eine haben?«, fragte er schließlich und deutete auf Ankas Handtasche.
»Kein Problem«, erwiderte diese und kramte in den Untiefen des Beutels. Schließlich hatte sie die rote Packung gefunden und streckte sie dem Unbekannten hin. »Wie heißen Sie eigentlich?«, wollte Anka nun wissen und mir wurde bewusst, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt hatten.
»Strahilo. Ich bin Strahilo und lebe seit 1993 an diesem Ort!«
Anka und ich tauschten verdutzte Blicke aus. War es möglich, hier oben dauerhaft zu leben? Sicher, er konnte in den großen Gebäuden am Auslauf wohnen, wo zu Zeiten der Olympischen Spiele zweifellos das Pressezentrum eingerichtet gewesen war und das Organisationskomitee seinen Sitz gehabt haben dürfte. Aber die Häuser sahen absolut leblos und verlassen aus. Und ob die Straße hier hinauf auf den Berg Igman im Winter ständig geräumt würde, schien mir fraglich zu sein, nachdem es in Friedenszeiten auch wieder andere Zugänge nach Sarajevo gab. Ein Auto war auf dem großen Parkplatz ohnehin weit und breit nicht zu sehen, wie sollte sich Strahilo also versorgen?
Ich beschloss, die Aussage zunächst so stehen zu lassen, um den Mann nicht davon abzuhalten, weiterzuerzählen. Vielleicht war er auch einfach nur verrückt und niemals Teilnehmer an den Olympischen Spielen gewesen. Das galt es für mich nun, im Laufe der weiteren Unterhaltung herauszufinden. Der Fremde schien ohnehin an einer Fortsetzung seiner Erzählung interessiert zu sein, denn er setzte ohne Aufforderung erneut an:
»1992 kehrte ich hierher zurück. Es war nur bedingt meine freie Entscheidung gewesen, denn ich war Soldat und der Krieg hatte begonnen. Ich bin Serbe und kämpfte für die bosnisch-serbische Armee.«
Anka zog neben mir scharf die Luft ein. Ein serbischer Freiheitskämpfer war so ungefähr der letzte Mensch, den sie treffen wollte. Die drei Jahre andauernde Belagerung Sarajevos nach der Unabhängigkeitserklärung Bosniens hatte sie nie vergessen. Die Angst, jeden Tag beim Einkaufen das Opfer eines serbischen Scharfschützen zu werden, war für ihre Weltsicht prägend gewesen. Noch heute erwachte sie in mancher Nacht schweißgebadet und ich wusste, in ihren Träumen war sie wieder in dem Sarajevo während des Krieges gewesen und hatte um das nackte Überleben gekämpft.
An ihren Bewegungen konnte ich ablesen, dass Anka nun ihrerseits eine Geschichte zu erzählen hatte, doch ich hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Ich war auf die Fortsetzung der Biografie des Serben gespannt und ein Streit konnte dafür nicht förderlich sein. Anka sollte danach äußern, was sie von dem Mann und seinem Kampf hielt und so sah sie es wohl auch, denn sie entspannte sich nun wieder und ließ Strahilo ungestört fortfahren.
»Auch wenn es nicht meinem Wunsch entsprach, wieder hierher zurückzukehren, so sah ich doch eine Notwendigkeit hierfür. Ich hing der Auffassung an, Jugoslawien müsse unter der Führung Serbiens erhalten bleiben, wie es von Tito geformt worden war. Genug war es mir schon, dass sich Slowenien ohne Widerstand losgesagt hatte, zumal sich dort die berühmten Schanzen von Planica befinden. Das sollte sich nicht noch einmal wiederholen, nicht zuletzt, weil wir unsere Landsleute von den Muslimen im Land bedroht sahen.«
An dieser Stelle konnte ich förmlich fühlen, wie sich Ankas Körper erneut straffte und sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe biss, um nicht auf der Stelle loszulegen. Doch sie schwieg und fraß ihren Ärger in sich hinein.
Unser Erzähler schien Ankas Anspannung entweder nicht bemerkt zu haben, oder sie war ihm gleichgültig, denn er fuhr ungerührt fort:
»Mit dieser Motivation schloss ich mich den serbischen Freischärlern an und war überzeugt davon, das Richtige zu tun. Meine Skisprungkarriere war zu diesem Zeitpunkt längst beendet. Schon kurz nach den Olympischen Spielen stürzte ich schwer und als Serbe war ich sowieso ein Exot. Unsere Springer kamen fast alle aus dem heutigen Slowenien. Dort bin ich auch aufgewachsen, aber es war aufgrund meiner serbischen Abstammung für die Funktionäre nicht wichtig, mir zu einem Comeback zu verhelfen. Doch ohne adäquate medizinische Versorgung und Rehabilitationsmaßnahmen hatte ich keine Chance und meine Wut und Verzweiflung stieg. Die sich anschließende Arbeitslosigkeit führte schließlich zu meiner Überzeugung, dass das serbische Volk benachteiligt wurde und dies ein nicht hinzunehmendes Unrecht darstellte. Deshalb kam ich her und verschanzte mich zusammen mit den Gleichgesinnten dort oben.«
Strahilo brach ab und deutete auf den der Schanzenanlage gegenüberliegenden Hang. Anka und ich folgten seiner Bewegung, doch starrten wir nur auf das unendliche Grün der Tannen.