DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
ja kaum auszuhalten sein für dich, mit all den Erinnerungen.«
Ich zittere, aber ich schüttle den Kopf. »Nein, bitte. Ich will mich verabschieden.«
Er legt eine Hand unter mein Kinn und drückt es mit sanfter Gewalt nach oben, bis ich ihn ansehe.
»Gut«, sagt er, »aber wirklich nur noch bis zum Waldrand, einverstanden?« Es klingt nicht wirklich nach einer Frage.
Ich nicke trotzdem und einer Eingebung folgend strecke ich die Hand nach seiner Wange aus. »Danke, Liebster.«
Mein Streicheln bringt ihn zum Lächeln und ich spüre erleichtert, wie er sich entspannt. Die Stille kehrt wieder in ihren vertraut gleichgültig friedlichen Zustand zurück. Auf dem Rest des Weges aus dem Dorf hinaus kann ich mich wieder an Georg lehnen, ohne mich unbehaglich zu fühlen. Sogar seine Wärme kann ich ein wenig genießen.
Für einen Moment verliere ich mich nicht in Erinnerungen, sondern in Erwartungen. Ich stelle mir unser gemeinsames Leben vor. Ein belebter Hof, Kinder, genug zu essen und schöne Kleider für das Ansehen im Dorf. Einem Dorf, das lebendig ist. In dem es Kinder gibt und Feste. Vielleicht wird es sogar Spaziergänge geben, so wie heute. Gemeinsame Abende vorm Kamin. Wärme. Wer sagt, dass es nicht wunderschön werden wird?, denke ich.
Und während ich das denke, erreichen wir den Waldrand. Georg bleibt stehen.
»Bitte lass uns einfach einen Moment hierbleiben, ja?«, flüstere ich.
Er schweigt. Sein Atem bleibt ruhig und er legt abermals den zweiten Arm um mich. Das interpretiere ich als Zustimmung. Ich lehne mich an ihn und lasse mich von den letzten Erinnerungen einholen.
Dass sie mich hier kriegen würden, habe ich gewusst. Schon seit wir den Marktplatz verlassen haben, habe ich mich vor ihnen gefürchtet. Ich hätte sie nur zu gern vermieden, wäre zurückgegangen, dem Wald ferngeblieben. Aber ich weiß auch, dass ich mich diesen Erinnerungen stellen muss, wenn ich mich wirklich verabschieden will. Und das will ich mehr als alles andere. Es soll endlich ein Ende haben. Also schließe ich die Augen und lasse mich überrollen.
Es war grau im Wald, als sie sie herschleppten. Genauso grau wie jetzt. Aber die Sonne ging damals nicht unter, nein, sie ging auf. Ich hatte die Nacht in meinem Bett verbracht, doch nach dem, was ich von anderen hörte, hatten sie sie die ganze Nacht über verhört.
Als Luise und ich mit einigen anderen aus dem Dorf den Waldrand erreichten, kniete die Schleifer schon umringt von Menschen im kalten Laub. Ihre Frisur hatte sich gelöst, braune Flecken zogen sich an mehreren Stellen über ihr Kleid, rote Striemen über ihre bleiche Haut. Sonst schien ihr nichts zu fehlen.
»Geh endlich«, knurrte Simons Vater gerade, als wir in Hörreichweite kamen. »Verschwinde von hier!«
Andere stimmten mit ein.
»Seid ihr wahnsinnig?«, keifte die Schleifer zurück. Verzweiflung, Wut und Erschöpfung rangen um die Vorherrschaft in ihrer Stimme. »Wohin sollte ich gehen? Ich habe nichts und niemanden sonst. Damit verurteilt ihr mich zum Tode!«
Sie schluchzte zornig, aber das ließ die anderen nur umso lauter werden.
Ich betrachtete es voll Schrecken. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte ihre Glaubwürdigkeit untergraben wollen. Ihren Ruf, sicher. Aber dass sie sie anrühren würden? Dass sie sie ausstoßen würden, nur weil ich diese dumme Hexengeschichte in die Welt gesetzt hatte? Wie hatte das geschehen können? Was konnte ich jetzt noch tun?
Nichts. Ich tat nichts.
Ich tat nichts, als die Schleifer uns anbettelte, noch einmal nachzudenken. Uns zu erinnern, wie sie all die Zeit als ein Teil von uns gelebt hatte. Uns zu fragen, wieso sie Simon hätte irgendetwas antun sollen, wo sein Tod ihr doch überhaupt nichts einbrachte. Ich tat nichts, als die anderen brüllten und drohten und ihr befahlen, zu verschwinden. Ich tat nichts, als sie dennoch blieb. Kniete, wo sie war. Und ich tat nichts, als der erste Stein flog.
Gerade als die Welt ihre Farben zurückgewann, mischte sich Rot unter das Braun der welken Blätter. Mehr und mehr sprenkelte es den Waldboden, solange bis die Schleifer schließlich dazwischen zusammenbrach. Ich konnte sehen, wie sie aufgab. Wie ihre Lider zu schwer für sie wurden.
»Ich verfluche euch nicht«, flüsterte sie, während sie ging. Nachdem der letzte Stein sein Ziel gefunden hatte, war es still geworden im Wald. Und der Wind trug ihre dünne, sterbende Stimme zu uns hinüber. »Ich muss euch nicht verfluchen. Ihr werdet euer eigener Fluch sein. Das Böse, das ihr in mir seht, tragt ihr selbst in euch. Es wird jeden von euch vernichten. Jeden, der hier lebt.«
Falls sie noch mehr sagen wollte, ging es im wieder aufschäumenden Stimmenmeer unter. Sie starb beschimpft und unbeweint. Wir verbuddelten sie im Waldboden. Keine Messe, keine Gebete. Niemand sprach über sie oder den Morgen, an dem sie gestorben war. Und für eine Weile glaubte ich, irgendwann vergessen zu können.
Doch was blieb, war der Fluch. Als der Erste im Streit seinen Nachbarn erstach, war es der Fluch, der ihm das Messer in die Hand gegeben hatte. Als der Zweite sich an einer ledigen Frau verging, war es der Fluch, der ihm seine Beherrschung genommen hatte. Freunde und Familien wandten sich gegeneinander. Alles zerbrach. Und wer nicht vom Fluch heimgesucht wurde, zog fort, solange er es noch konnte.
Ich bin die Letzte. Wenn ich wegziehe, wird es hier niemanden mehr geben. Niemanden, der die Felder bestellt und auch niemanden, der sich erinnert. Das Dorf ist gestorben. Genauso wie die Witwe Schleifer. Es hat nur ein wenig länger dafür gebraucht.
Ihr werdet euer eigener Fluch sein, geht es mir immer wieder durch den Kopf.
Georg gräbt seine Fingerkuppen in meine Schulterblätter und dreht mich zu sich um.
»Lass uns endlich gehen«, fordert er. »Du hast dich genug verabschiedet und es ist gleich dunkel. Außerdem tut dir zu viel frische Luft gar nicht gut, denke ich.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, legt er wieder seinen Arm um mich und zieht mich mit sich zurück. Ich bin noch halb benommen von der Intensität der Erinnerungen, aber ich ertappe mich bei der Vorstellung, ihn von mir zu stoßen. Aus irgendeinem Grund fällt mir der Tag wieder ein, an dem meine Mutter starb. Wie ich das Messer einsteckte, ehe ich zu meinem Vater ging …
Es endet hier, denke ich mit aller Entschlossenheit, die ich aufbringen kann. Die Schleifer war keine Hexe und es gab nie einen Fluch. Nur Menschen, die für all das Übel, das in ihnen schlummerte, endlich eine Ausrede hatten. Und selbst wenn es doch einen Fluch gegeben haben sollte, dann stirbt er jetzt und hier mit dem Dorf. Ich gehe fort und dann wird sich nichts hiervon je wiederholen und nichts davon mehr wichtig sein. Nichts.
Ich will es glauben. Und ich will vergessen. Doch während Georg seinen Arm fester um meine Schulter zieht und seine Schritte beschleunigt, ertappe ich mich bei dem einen Gedanken, um den immer wieder alles kreist:
Ich bin nicht sicher.
Das Loch im Zaun | Oliver Bruskolini
Es ist ein Loch im Zaun. Der Rost hat den Maschendraht zerfressen und entblößt eine Öffnung. Sie ist wie ein Tor. Ein Tor, durch das ich die Enge dieser begrenzten, von Zäunen geprägten Welt verlassen kann. Ich würde ihr gerne entfliehen. Aber irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht die Angst vor dem Unbekannten.
Ich gehe einen Schritt auf das Loch zu. An manchen Stellen steht der Draht über. Es besteht Verletzungsgefahr. Aber was ist verletzender? Eine potenzielle Blutvergiftung oder das Verpassen einer vielleicht einmaligen Chance?
Ich schrecke kurz zusammen. Die Straßenlaternen schalten sich ein. Der rostbraune Draht schimmert surreal im Licht. Hinter mir liegt die Vorstadt, so wie sie immer da lag. Akribisch geplante Straßenzüge, an deren Rändern fast identische Häuschen stehen. Hier ist der Rasen gestutzt. Hier ist der Zaun frisch lackiert. Hier liegt ein Hauch von Spießigkeit über den Dächern. Ich hasse den bürgerlichen Geruch.
Also fasse ich mir ein Herz. Ich zwänge mich durch die