DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
Stadtrat übers Wochenende im politischen Sinne nichts geändert, die Zungenwürste hatten das Sagen und gemeinsam mit den Sülzwürsten die Mehrheit, auf den Oppositionsbänken saßen zwei Rotwürste, ein weißer Schwartenmagen, eine Leberwurst, ein Saurer Zipfel und eine tätowierte Blutwurst.
Zunächst befragte der Rat den bekannten Maiburger Arzt Doktor Boudin. Der Internist erklärte, er habe seine Patienten schon immer eindringlich vor der wurstlastigen Ernährung gewarnt und mediterrane Küche empfohlen. Für den Doktor war die Sache klar: »Die Gründe für die Verwurstung liegen auf der Hand. Körperzellen altern, schrumpfen und gehen den Weg alles Irdischen. Würden die Zellen nicht umgehend ersetzt, schnurrte der Körper in sich zusammen, übrig blieben nur Haut und Knochen. Durch die Nahrung nehmen wir jedoch stets frische Zellen zu uns, in unserem Falle Fleisch, Fett, Zwiebeln und verschiedene Gewürze. Die Innereien sorgen für den Stoffwechsel – neu gegen alt –, als Trägerflüssigkeit dienen Wasser, Bier oder trockene Weine. Ein Späßchen, meine Damen und Herren.«
Niemand lachte.
»Sind die Zellen mehrheitlich ausgetauscht«, führte Doktor Boudin weiter aus, »erreicht der Körper einen kritischen Zustand. Ein Scheibchen Schinkenwurst, ein Fitzelchen Krakauer genügen«, der Doktor spitzte den Mund, »und es macht ›fffft‹, fertig ist die Wurst.«
»Alle am selben Tag?«, zweifelte eine Zungenwurst.
»Zufall«, sagte der Doktor. »Übrigens, es hätte auch schlimmer kommen können. Stellen Sie sich vor, wir hätten uns nur von Kartoffeln ernährt!«
Die Räte fragten sich insgeheim, warum der gute Doktor seine eigenen Ratschläge missachtet hatte, dankten und wandten sich dem gerade erschienenen Literaturwissenschaftler Professor Doktor Aimerling von der Universität Maiburg zu.
Der Professor – mit wurstrelevanten Fragen bis dato nur in der Mensa befasst, immer donnerstags – warnte vor Panikmache. In seiner Wissenschaft seien Verwandlungen aller Art an der Tagesordnung und in der Fachliteratur zuhauf beschrieben: »Frösche und Kröten steigen durch einen Kuss in den menschlichen Hochadel auf. Menschen wachen des Morgens verkatert auf und neben ihnen liegt ein fremder Käfer. Oder sie sind selbst der Käfer.«
Über die unzähligen Metamorphosen in der Mythologie – Gottheit zu Tier, um nur ein Beispiel zu nennen – biete er aus dem gegebenen Anlass eine Vorlesungsreihe an, sagte Professor Aimerling, falls Interesse bestehe …
»Verehrter Professor«, unterbrach ihn der Saure Zipfel, »kennen Sie auch Fälle, bei denen sich Würste in Menschen zurückverwandelten?«
»Nein«, sagte der Professor, wegen der unbotmäßigen Unterbrechung indigniert, von reversiblen Würsten habe er noch nie gehört, und fuhr fort: »Die einschlägige Fachliteratur berichtet ferner von sieben Knaben, die als Raben zum Fenster hinausflogen und von einem wilden Bären, der sich in einen schönen Mann verwandelte, ganz in Gold gekleidet. All dies ist von gescheiten Leuten hundertfach bezeugt und in klugen Büchern nachzulesen. Wer sind wir, dass wir Gedrucktes anzweifeln? Apropos Wurst«, schloss der Professor, »meine geschätzten Vorgänger Wilhelm und Jacob Grimm berichteten einst ›Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst‹. Alle drei fanden ein schreckliches Ende, die Bratwurst durch einen Hund. Konnte ich Ihnen nicht ersparen, aber zweifelsfrei handelt es sich hierbei um ein Märchen.«
Man hatte keine weiteren Fragen, danke.
Die Mittagspause nahte, aber vor Salatbüffet und eilig beschafften Grünkernbratlingen stand noch die Befragung der Biologielehrerin des Maiburger Gymnasiums im Raum. Eine freudestrahlende Oberstudienrätin stellte sich vor – Doktor Melanie Broeslein –, sie habe über den Mutationismus promoviert, derselbe sei eine anerkannte Evolutionstheorie, bei der diskontinuierliche Mutationen die ausschlaggebende Rolle spielten. Die synthetische Evolutionstheorie sei umstritten, ja, ja, ja, wehrte sie ab, obwohl keiner der Anwesenden einen Muckser gemacht hatte. Das hiesige Ereignis – sie bezeichnete es als die »Maiburger Wurstung« – biete ihr persönlich die Chance, buchstäblich in eigener Sache zu forschen, da sei sie sozusagen in ihrem Element. In ihrer Begeisterung verlor Doktor Broeslein den Faden und verdarb mit ihren zoologischen Auslassungen über Verpuppungen und Larven, Häutungen, Kaulquappen, gefräßige Engerlinge und Maikäfer allen Anwesenden gründlich den Appetit.
»Nein«, bestätigte auch sie auf Anfrage, »dies sind keine umkehrbaren Vorgänge, aus einem Schmetterling wird nun mal keine Raupe mehr.«
Für den folgenden Tag erhofften sich die Räte – von der Ernährungstheorie des Doktors Boudin nicht gänzlich überzeugt – Klärung über die eigentliche Ursache der Wurstwandlung, die Wurstfabrik sollte angehört werden.
Der Leiter der Forschungsabteilung, ein verstörter Lebensmitteltechnologe, sprach im Namen der Geschäftsleitung sein Bedauern über die Ereignisse aus. Die Wurstproduktion habe man aus ethischen Gründen und des eingebrochenen Absatzes wegen selbstredend sofort gestoppt und die Belegschaft vorsorglich freigestellt. Ein Zusammenhang der Verwurstung Maiburgs mit den Erzeugnissen seines Unternehmens könne er kategorisch ausschließen, seiner Firma sei es immer nur um die gesunde Wurst gegangen, nur auf Herz und Nieren geprüfte Rohstoffe und Zutaten seien zur Verwendung gekommen, auch die kürzlich entwickelte, zeitgemäß genfreundliche Turbowurst sei vor ihrer Markteinführung intensiven Versuchsreihen und strengsten Tests unterworfen worden.
Die Leberwurst rief: »Da haben wir es – Turbowurst, Genwurst, Turbo-Genwurst!«
Der Saure Zipfel sprang auf: »Wir sind vergiftet worden!«
Mit dem Ausruf »Verbrecher« sackte er auf seinen Ratsstuhl zurück. Der Bürgermeister schenkte dem schluchzenden Kollegen ein Kirschwässerchen ein.
Die Auslassungen der Schlachthofleitung ergaben ebenfalls keine verwertbaren Erkenntnisse – der zuständige Veterinär versicherte, alle Schweine und Rinder seien auf ihren eigenen vier Beinen in den Hof gelaufen, gesund, aus nachhaltig behüteter und artgerechter Aufzucht, das Fleisch kontrolliere und zertifiziere er selber.
Damit war die Sitzung geschlossen. Zwar hatten die Stadträtinnen und Stadträte ihr Wissen beträchtlich erweitert, waren aber nicht klüger als zuvor.
»Das Leben geht weiter«, sagte der ratlose Bürgermeister unwidersprochen, Nahrungsmittelvorräte habe die Stadt für Monate.
Die Wachen an den Stadttoren wurden verstärkt. Maiburg war fortan von der Welt abgeschnitten, wie die Stadt Oran in den Zeiten der Pest.
Indes kehrte der Alltag in die Stadt zurück. Die vollfetten Würste machten weiterhin gute Geschäfte, vor den Kneipen standen die Rauchwürste und die heimatlosen Bürgerwürste von Katharinas Grill – Katharina hatte »Wegen Umbau’s geschlossen«. Teewürste saßen mit feinen Pinkeln auf den Caféterrassen, Wiener, Frankfurter, Kabanossi und Lyoner, nackte Schwabenwürste und Weißwürste in schmucker Tracht flanierten einträchtig um den Rathausplatz. Die Streichwürste arbeiteten weiterhin als Maler und Lackierer, der Bierschinken braute Maiburger Bock, und in den nunmehr vegetarischen Küchen werkelten die Kochwürste. Die Bregenwürste bekleideten ihrer großen Hirnmasse wegen die gehobenen und höheren Ämter, Landjäger und Schützenwürste sorgten für die öffentliche Ordnung.
Katharina eröffnete nach einigen Tagen wieder, sie hatte umgesattelt auf Tofuklopse. Erleichtert nahmen die Stadtwürste ihren Stammtisch wieder in Beschlag. Das Leben ging seinen Gang, wie es der Bürgermeister vorausgesagt hatte.
Eines Nachmittags umringte eine Schar bunter Würste Katharinas Grill. Eine Gelbe Wurst, zwei Paar Kumpel im Naturdarm, eine Schwarzgeräucherte mit senfgegelten Haaren, drei Rote Würste und zwei Dunkelfarbene im Kräutermantel genehmigten sich ein kühles Pils. In der Rathausgalerie gegenüber lärmte ein Dutzend junger Blutwürste, hörbar vorgewärmt, und schlenderte in Richtung Katharina.
»Hier stinkt’s, euer Verfallsdatum ist wohl abgelaufen!«
»Was wollt ihr Hanswürste!«, erwiderten die Schwäbischen Nackten.
Die Blutwürste schlugen los: »Aus euch machen wir