DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
des Bahnhofs. Ich habe nur mein Gepäck abgestellt. Das Zimmer war noch nicht frei. Und dann wieder los, sehen, was ich zurückgelassen habe.
Meine Stadt.
Und jetzt: Jetzt nehme ich mein Zimmer in Beschlag. Etwas aufgewühlt schließe ich leise die Zimmertür hinter mir. Endlich allein. Nur schnell frisch machen und dann etwas essen gehen. Als ich eben aus dem Taxi stieg, habe ich unten ein bekanntes Steakhaus gesehen, da werde ich hingehen. Mein Magen macht sich kurz bemerkbar. Es wird Zeit. Der Hunger.
Plötzlich klingelt mein Handy. Als ich auf das Display schaue, sehe ich, dass es meine Mutter ist.
»Lucas, ich bin’s. Wann kommst du? Oder bist du schon in Hamburg?«
Was soll ich ihr nun antworten?!
»Heute nicht, ich komme morgen!«
Der Turm | Ralph Bruse
Weit fliegt der Blick – weit ins windgekämmte Land. Das wogende Gras schimmert dunkelblau. Hier der Deich, der fast schnurgerade zum Himmel führt. Da hinten Salzwiesen, die allein den Seevögeln gehören. Und dann nichts mehr, außer einem Fetzen ruhenden Meeres.
Ebbe.
Die Flut – wo bleibt die Flut? Irgendwann wird sie schon kommen – stumm, unmerklich, und mit ihr fahren die Fischer nach Hause zurück. Doch jetzt herrscht große Stille.
Ein Tag im August. Der Wind wartet auf die Stunde seines Erwachens. Die Sonne brannte auch schon mal stärker.
Da oben, auf dem Deich, schiebt jemand sein Fahrrad.
Ein Mann?
Ja, es ist ein Mann, so um die dreißig, vielleicht auch älter.
Was treibt er da oben?
Was soll er schon treiben. Nichts – er lässt sich treiben – spaziert, weil er keine Eile hat. Vielleicht weiß er demzufolge auch nicht, wohin er will.
Zur Landseite hin erhebt sich ein Turm. Die Einheimischen nennen ihn Ochsenturm, weil er schief dasteht, wie ein krummer Finger, der immer noch standhaft jedem Sturm trotzt – stur wie ein Ochse eben.
Der Turm ist die einzige Erhebung weit und breit.
Wer will es dem Fremden verübeln, dass er sich wieder aufs Rad schwingt, deichabwärts saust, eine Schar Schwalben im Rücken, Richtung Turm. Auf ihn!, ruft er dem Wind zu.
Die Fahrt wird immer schneller. Zwei Schwalben kreuzen übermütig seinen Weg, lassen ihn vor, überholen, zisch, wenden, um das Spiel zu wiederholen. Der Mann jubelt im Rausch der rasanten Fahrt; nur leider vertreibt sein Jubeln schließlich die Schwalben. Nicht so schlimm, denn der Turm kommt näher, wird größer, beinah erschreckend groß, und dann verstellt der »krumme Finger« ihm den Weg. Da, wo dieses Ungetüm von einem Turm aufsteigt, ist der Weg zu Ende, und der Mann erwischt sich bei dem Gedanken, dass hier gar das Ende der Welt sein muss, was ja beinah auch stimmt, weil die Gegend augenscheinlich an großer Einsamkeit stirbt.
Er überlegt schon, ob er umkehren soll – da sieht er eine junge, in sich vertiefte Frau, die zu Füßen des Turms das Grab ihrer Verstorbenen pflegt. Zögernd geht er näher. Dann kann er sehen, dass hangabwärts, unweit der Frau, weitere Grabsteine aufragen. Die Steine sind brüchig; ihre Inschriften zum Teil unlesbar.
Auf Friedhöfen zu wandeln ist sicher nicht jedermanns Sache. Aber hier, an diesem vergessenen Ort, fern jeder Siedlung, abseits von Lärm und Zänkereien, der Selbstfindung ganz nah – da läuft man nicht einfach so weg, nur weil man ein Fremder ist. Die Stille schlingert um den Turm, wacht über bleiche Gräber, raunt vom Himmel und in Wiesen. Stumme Engel schweigen auf moosigen Gräbern. Manche sind weiß; die Mehrheit aber ist grau, rissig, ohne Arme und Köpfe, die der stramme Seewind wegriss.
So, oder so – jeder Stein würde seine Geschichte erzählen, ließe man sie nur. Jan Braase, zum Beispiel … der ruht unter einem grob gemeißelten Speckstein, gleich neben der Turmmauer. Er war Wärter – der Wächter des Turms. Achtzig ist er geworden. Von diesen achtzig Jahren war er keinen Tag weniger in diesem Turm. Braase war hier Kind, Junge, Mann, Vater, Großvater. Als er starb, weinten viele um ihn.
Die Frau an seinem Grab wischt sich Tränen vom Gesicht.
Jetzt wirft sie den Kopf herum, weil die knirschenden Schritte des Fremden nicht mehr zu überhören sind.
Guten Tag, sagt der Mann ruhig, in der Hoffnung, sie wird ihr jähes Erschrecken recht schnell bezwingen. Er zögert, weil er den noch abweisenden Blick ihrer Augen erkennt. Doch dann stapft er einfach noch näher und reicht ihr wohlgesonnen die Hand. Sie reibt ihre Hand zwar kurz an seiner, sagt aber nichts. Dass sie ihm – immerhin – nicht gänzlich misstraut, deutet er als gutes Zeichen.
Sie widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Der Mann wirkt eher froh als betrübt. Hier, in der Einöde, ist ihm auch nicht sonderlich nach Reden zumute. Also tritt er langsam den Rückzug an, verabschiedet sich, schnappt nach dem Fahrrad an der Mauer, will gerade das Weite suchen, als sich der Himmel urplötzlich schwärzt und Gewitterblitze aufs Land niederkrachen. Schon fallen dicke Regentropfen. Der Wind erwacht. Schwalben fliehen ans Ufer, bestürmen das sichere Turmdach. Möwen schreien. Wiesen rauschen. Mauern ächzen. Und die zwei Menschen – was tun sie? Sie reißen fast gleichzeitig die schwere Turmtür auf, retten, schütteln sich – schütteln sich wie nasse Hunde, kichern, und die ersten, scheuen Worte hallen gespenstisch von den hohen Mauern wider. Zarte Vertrautheit legt unsichtbare Arme um sie. Sie reden, lächeln mitunter, sprechen langsam, vertieft, unerklärliche Traurigkeit in den Stimmen – es ist ein Wechselspiel von Heiterkeit und Melancholie.
Erst als eine kurze Pause eintritt, steigen sie die knarrigen Holzstufen zur Turmspitze hoch. Die Frau vorneweg, der Mann schnaufend dahinter. Ihm ist das nasse, wurmstichige Holz nicht geheuer.
Die Frau lacht jetzt. Ihm ist nicht danach. Erst als sie zusammen auf der wackelnden Empore des Turms stehen – dreiundachtzig Meter über den Gräbern –, müht sich ein Lächeln in seinen Mundwinkeln.
Der Turm stöhnt unter der Wucht des schweren Regens. Einmal glauben sie sogar, lose Backsteine in die Tiefe krachen zu hören. Oder war es nur die tosende Brandung, ein übermächtiges Grollen, das haltlos an Land stürmt?
Während sie – genau wie die Schwalben unterm Turmdach – dicht aneinander gedrängt ihre Blicke in die regenschwere Ferne schweifen lassen, sagt sie mehr zu sich: Ich bin oft hier. Eigentlich war ich nie weg, von hier …
Erzählen Sie mir davon, bittet er.
Sie schweigt – aber nicht sehr lange.
Dieser Raum war mein Zimmer.
Sie zeigt zur Seeseite hin.
Hier, genau hier, wo wir jetzt stehn, saß Vater auf Wache … Tagein, tagaus. Ich erinnre mich nicht, ihn je an einem andern Platz gesehn zu haben. Manchmal ist er eingenickt, aber meist war er hellwach. Dann hat er mir Geschichten von früher erzählt, als er selbst ein kleiner Junge war. Mein Aussichtszimmer war ja auch schon seins. Er war ganz stolz, dass es ihm allein gehörte. Sein ganzer Reichtum, wie er sagte.
In seinen Geschichten ging es immer um vorbeifahrende Schiffe, um Winde, Gezeiten. Er wurde es nie leid – und ich auch nicht. Wenn Mutter die weißblaue Bettwäsche zum Turmfenster raushängte, dann wusste jeder im Umkreis, dass in der letzten Nacht wieder ein Schiff im Sturm gesunken war.
Vater war ein wortkarger Mann, was auch nicht weiter verwundert, wenn man unaufhörlich zu tun hat, Schiffen mit Leuchtfeuern den Weg zu weisen. Wenn trotz menschenmöglichster Wachsamkeit dennoch ein Schiff sank, dann wurde Vater gänzlich stumm; aß, trank nichts; schob alle Schuld auf sich.
Von Zweifeln zerrissen, blieb er einfach hier sitzen, starrte abwesend vor sich hin, ließ keinen zu sich – Stunde um Stunde; manchmal für Tage.
Sie stockte; atmete tief ein und aus.