DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz

DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Michael Birke Lutz


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die Roten.

      »Rotwurst verrecke!«, hallte es über den Rathausplatz.

      Die Stadtwürste am Nebentisch machten, dass sie wegkamen. Die Bunten wehrten sich erbittert, die Gelbwurst konnte flüchten und die Landjäger alarmieren. Als diese eintrafen, lag eine Rote Wurst mit geplatzter Haut auf dem Kopfsteinpflaster und musste notärztlich versorgt werden.

      Die Gelbe Zeugin sagte aus, und so konnten die Landjäger die Schlägerwurst noch am selben Abend im »Wurstkessel«, dem Stammlokal der Blutwürste, verhaften und nach der Entnahme einer Blutprobe im nutzlos gewordenen Kühlhaus festsetzen.

      Eine Rangelei unter jungen Leuten sei aus dem Ruder gelaufen, stand im Pressebericht der Landjäger, die Rote Wurst sei bereits auf dem Wege der Besserung. Der oberste Jäger versicherte der Bevölkerung, Maiburg sei und bleibe sicher, trotz vorübergehend geschlossener Tore habe sich die Stadt ihren weltoffenen Charakter bewahrt. Einen rassistischen Hinter- oder Vordergrund der Tat schloss er aus.

      Der Chefredakteur des Lokalblattes schickte eine Volontärin auf den Marktplatz, Volkes Stimme zu lauschen – »vox populi«.

      »Jetzt macht mal kein Geschiss wegen der paar Fettspritzer!«, ereiferte sich die erste Volksstimme, die ihren Namen nicht nennen wollte.

      »Geschieht diesen Roten ganz recht, gell, Herr Nachbar«, meinte die zweite Stimme. »Jawohl«, sagte der, »diese Nullbockwürste liegen den ganzen Tag auf der faulen Haut, alles auf unsere Kosten!«

      Eine vierte Stimme rief: »Auf den Grill mit diesen arbeitsscheuen Saumägen!«

      Von der Blutwurst könne man sich eine Scheibe abschneiden, meinte eine weitere Volksstimme, die einfache Wurst auf der Straße erlebe den Anblick dieser herumlungernden farbigen Gestalten mit ihren Mayofrisuren als Angriff auf das gesunde Volksempfinden.

      »Nehmen uns die Arbeitsplätze weg«, sagte eine gerade hinzugekommene Wurst.

      Die erste Namenlose bekam das letzte Wort: »Wer sich bei uns anständig aufführt, dem passiert nix! Schreiben Sie das, junge Frau!« – Beifall.

      Die Volontärin kehrte in heller Aufregung in die Redaktion zurück. Der Redakteur vom Dienst sagte: »Vox Rindvieh«, und schickte die Dame unverzüglich ins Rathaus – die Stadtverwaltung hatte eine Notverordnung erlassen. Im Wortlaut: »Angesichts dramatisch zunehmender Unfallraten ist der Gebrauch von spitzen Gegenständen wie Messern, Gabeln, Nadeln, Nägeln, Taschenmessern, Eierpiksern und Bleistiften genehmigungspflichtig.«

      »Endlich wird durchgegriffen«, sagte Volkes Stimme.

      Maiburg aß nunmehr mit Fingern und Löffeln – Anlass für das Feuilleton, über die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens nachzudenken. Als händischer Esser befinde sich der Maiburger nunmehr historisch gesehen in allerbester Gesellschaft, schrieb die Zeitung, schon Ramses III. griff mit den Fingern in die Steingefäße, auch der alte Nero langte mit der Hand in die Töpfe. Noch Ludwig XIV. lehnte die Gabel ab und aß mit den Fingern – seinen eigenen. Ganze Kontinente benützten heutzutage die Finger der rechten Hand, schrieb das Feuilleton, man hüte sich vor postkolonialer Überheblichkeit. Der Artikel schloss mit einem wohl nicht ganz ernst gemeinten Ratschlag, im ehelichen Alltag spitze Bemerkungen zu unterlassen.

      Eine Woche nach dem Überfall auf die bunten Würste entdeckten spielende Kinder die gelbe Tatzeugin der Schlägerei am Achufer. Die Autopsie ergab mehrere nadelfeine tödliche Einstiche, die landjägerlichen Ermittlungen verliefen im Sande der Ach. Die in Untersuchungskühlhaft sitzende Blutwurst hatte für den mutmaßlichen Tatzeitpunkt zwangsläufig ein piekfeines Alibi, wurde unter Meldeauflagen freigelassen und im »Wurstkessel« mit tosendem Beifall empfangen. Mit den Rufen »Freibier für alle« und »Maiburg den Maiburgern« gründete der Freiheitsheld noch an der Theke lehnend eine neue Partei, die Blut-und-Bodenwurst-Bewegung – die BBB – und ernannte sich einstimmig zum obersten Blutwurstführer. Die Ratsblutwurst übernahm das schwere Amt für Presse, Propaganda, Schutz und Trutz. Eh man sich versah, marschierten Vorwärts-vorwärts-Jugend-kennt-keine-Gefahren schmetternde Kolonnen des BBB-Zucht- und Ordnungsdienstes durch Maiburgs Gassen. Ehemalige Schlachthöfler, Wurstfabrikler, Arbeiter aus der Zulieferindustrie und dem Wursthandel – halb Maiburg –, strömten zu der straff organisierten ehrenamtlichen Truppe. Unter dem zackigen Kommando von Blutgruppenführern patrouillierte der Ordnungsdienst durch die Straßen und sorgte für Angst und Schrecken unter den bunten Würsten.

      »Und für Ordnung!«, sagten die Leute. »Ordnung muss sein!«

      Der Bürgermeister betrachtete die Vorgänge um die selbst ernannten und selbstherrlichen Ordnungshüter mit wachsender Sorge und berief eine Dringlichkeitssitzung des Rates ein. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass auch mehr und mehr Landjäger und Schützenwürste zu der Schutztruppe übergelaufen waren. Die Leberwurst wiegelte ab.

      »Tiefer hängen«, sagte sie, »in wenigen Wochen ist der Spuk vorbei.«

      Sie wusste ja nicht, die gute Leberwurst, wie recht sie hatte. Der Sprecher der Sülzwürste wollte im Namen seiner Fraktion nicht gänzlich in Abrede stellen, dass nicht vielleicht doch ein gewisser Handlungsbedarf bestehe, plädierte aber zunächst – in Übereinstimmung mit den Hirnwürsten – für eine sachliche, sich am Inhaltlichen orientierende Auseinandersetzung mit den neuen Gedanken, denen man sich ja nicht von vorneherein aus ideologischen Gründen verschließen dürfe. Man setze sich dafür ein, sagte die Sülzwurst, die berechtigten Sorgen und Nöte der kleinen Wurst auf der Straße ernst zu nehmen und sich lösungsorientiert mit der Thematik zu befassen.

      »Meine Rede!«, sagte der Saure Zipfel.

      Als die Blutwurst forderte, die bunten Würste zu ihrer eigenen Sicherheit in präventive Schutzkühlhaft zu nehmen, kam es zu einer kurzen Rangelei mit den Rotwürsten.

      Der Vorschlag der Zungenwürste, einen interfraktionellen Arbeitskreis einzusetzen, wurde ohne Gegenstimme angenommen.

      Zur Gedenkfeier und Einäscherung der Gelbwurst fanden sich Angehörige, Maiburger Honoratioren, bunte Freunde und drei Stadtwürste von Katharinas Stammtisch ein. Eine Hirnwurst als Vertreterin des Rates verurteilte die Tat auf das Schärfste und versicherte den Trauernden das Mitgefühl der Obrigkeit – alles Wurstmögliche werde getan, den Fall aufzuklären. Der Pfarrer, Urgestein der Maiburger Friedensbewegung, erinnerte an den Aufstieg der faschierten Würste: »Wehret den Anfängen!«

      »Anfänge, Anfänge«, flüsterte eine der Stadtwürste, »wir sind mittendrin.«

      Zum Schluss seiner Predigt fand der Pfarrer doch noch versöhnliche Worte: »Lassen Sie uns weiterhin an das Gute in der Wurst glauben. Amen.«

      Nach der Trauerfeier trafen sich die drei Stammtischler auf ein dunkles Bier.

      »Gegen die Blut-und-Boden-Pest gibt’s keine Mittel«, sagte der Erste.

      »Die befällt urplötzlich das Hirn, aus heiterem Himmel«, meinte der Zweite.

      »Das sind kranke Gedanken, ansteckende«, sagte Nummer drei.

      »Die Gedanken sind frei!«, bestätigte der Erste. »Da helfen keine Mauern!«

      »Eben«, meinte wiederum der Dritte, »auch kranke Gedanken sind frei!«

      Eine Rotte blutjunger Zucht- und Ordnungswürste marschierte schneidig über den Platz, die Stiefel dröhnten auf dem Pflaster und ihre Bierfahnen flatterten voran.

      »Heil, Blutwurst, heil!«

      »Ekelhaft, dieses Gebrüll«, tuschelten die drei hinter ihren Tofuklopsbrötchen.

      »Als kleine Wurst kannst du nichts machen«, sagte der dritte Stammtischler und leerte seinen Becher.

      Ein Presssack, eine Rote und eine Gelbe Wurst beschlossen, dem Schrecken zu entfliehen, zwängten sich durch eine Schießscharte der Stadtmauer und wurden im trockenen Stadtgraben von einem Rudel Hunde zerrissen und verschlungen.

      Die


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