DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
nickte.
»Das ist doch albern. Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur…«
»Nein«, fiel ich ihr ins Wort. »Nein! Sie hat nichts einfach nur. Sie hatte eine Puppe aus Stroh, die sie mit Nadeln traktiert hat und sie hat gesummt oder gemurmelt und war vollkommen versunken.«
Luisa betrachtete mich mit offenem Mund. Ihr Mann kam hinzu und schließlich nahmen die beiden mich mit in ihr Haus. Wir sprachen noch lange. Am Ende glaubten sie mir. Und die Gerüchte begannen, sich zu verbreiten.
»Willst du einen Moment Pause machen?«, fragt Georg. »Du wirst blasser und blasser.«
Ich sehe zu ihm auf und konzentriere mich darauf, einige Mal tief ein- und auszuatmen. Dann schüttle ich den Kopf. »Nein, es geht schon. Ich denke, es ist besser, wenn wir weitergehen. Die Bewegung ist gut für meinen Kreislauf.«
»Wie du meinst.«
Er streicht mir über den Rücken und führt mich weiter.
»Was dir wirklich guttun wird«, sinniert er nach einer Weile, »ist endlich von hier zu verschwinden. Was für ein unfassbar bedrückender Ort. Du hättest hier nie leben sollen, schon gar nicht allein.«
Ich lehne mich im Laufen an seine Schulter. »Früher war es hier ganz anders.«
»Mag sein, aber es geht schon bergab mit diesem Nest, seit dieser Junge im Brunnen ertrunken ist.«
Darauf kann ich nur nicken.
Der Junge hieß Simon. Er war ein paar Jahre jünger als ich und der Spross einer der größeren und älteren Bauernfamilien hier im Dorf. Seine älteren Brüder waren immer frecher und lauter gewesen als er. Daneben war Simon nie aufgefallen. Ihn kannte ich kaum und so ging es, denke ich, den meisten. Dennoch änderte sein Tod alles.
Niemand war bei ihm, als er starb. Deshalb konnte niemand genau sagen, wie es geschehen war. Seine Mutter fand ihn erst am Abend im Brunnen. Da war er längst ertrunken. Sie schrie und rief um Hilfe, bis schließlich einige Männer aus dem Dorf kamen und ihn hinauf zogen.
Noch am selben Abend versammelten wir uns alle in der Kirche zur Andacht. Ich erinnere mich, wie Simons Familie und seine wenigen Freunde dicht gedrängt zusammensaßen und um ihn weinten. Auch ich weinte ein wenig, aber weniger um Simon, als um des Schreckes willen. Die Vorstellung, wie es wäre, würde einem meiner Lieben so etwas geschehen, machte mir Angst und ich suchte Trost im Arm meiner Mutter, während ich der Predigt lauschte.
Dass einige Männer bei der Andacht fehlten, bemerkte ich erst, als mitten im stillen Gebet die Tür aufsprang.
»Sie war es«, brüllte August Link, während er schnaufend auf die Kanzel zustürmte. »Die Schleifer hat ihn umgebracht! Hexe!«
In seiner Hand hielt er die Puppe und die Nadeln, die ich nur allzu gut kannte, und wedelte damit über seinem Kopf herum. Hinter ihm fielen andere aus seiner Gruppe in sein Rufen ein.
Mit pumpender Brust und geballter Faust kam August vor der Gemeinde zu stehen. Unser Pfarrer war trotz seines hohen Amtes immer ein stiller, beinahe schüchterner Mann gewesen. Er machte keinen Versuch, in das Geschehen einzugreifen oder uns zur Besinnung zu rufen. Er stand einfach schweigend auf der Kanzel, ließ August reden und betrachtete das alles mit distanziertem Interesse.
Mein Blick wanderte zur Schleifer. Sie saß ganz still auf der Kirchbank, umgeben von bohrenden Augen, die sie kaum zu bemerken schien. Ihre eigenen Augen waren geweitet, der Mund halb geöffnet, die Finger verkrampft. Zunächst wirkte es so, als verstünde sie gar nicht, worum es ging. Erst ganz allmählich realisierte sie, worüber gesprochen wurde. Als sie es dann verstand, wurde sie sehr blass.
Heute denke ich manchmal, wie seltsam es ist, dass niemandem die Art ihrer Reaktion auffiel. Sie zuckte nicht zusammen, sie versuchte nicht sofort, sich zu verteidigen, sie saß einfach da und verstand nicht, was um sie herum geschah. So verhält sich niemand, wenn er auf frischer Tat ertappt worden war. Doch keiner außer mir schien das zu bemerken.
»Das hier war in ihrem Haus versteckt«, donnerte August in diesem Moment und zog alle Augen auf sich. Wieder schwenkte er Puppe und Nadeln hin und her. »Sie ist eine Hexe! Sie hat gezaubert, um Böses über uns zu bringen, und nun ist Simon gestorben!«
Die Mutter des toten Jungen schluchzte laut. Ihr Mann drückte sie einen Moment an sich, dann stand er auf und bahnte sich einen Weg durch die bereits raunende Menge. Seine Wangen waren tränennass, aber jetzt bebte er vor Wut.
»Wieso?«, brüllte er der Schleifer entgegen, während er lief. »Wieso unser Junge? Wie konntest du?«
Die so Angerufene schüttelte nur den Kopf und hob abwehrend die Hände. Zweimal setzte sie an, um zu sprechen, aber offensichtlich fehlten ihr die Worte.
August fehlten sie nicht. »Was spielt es für eine Rolle, wieso? Und meinst du wirklich, sie würde es dir sagen? Sie lügt, sie hat uns alle belogen! Wie lange treibst du dieses Spiel schon, hm? Hexe! Glaubst du, wir sind blind?«
Als sie nun beide Männer auf sich zukommen sah, löste die Schleifer sich aus ihrer Starre. Sie sprang auf und wollte zurückweichen, aber auch die Umstehenden hatten sich bereits erhoben und hielten sie zurück. Hände über Hände griffen nach ihren Armen, ihren Schultern und ihren Kleidern. Sie zogen, schoben und zerrten sie nach vorn in den Gang. Dort versuchte sie, nach hinten zum Kirchentor zu fliehen, aber neue Hände griffen nach ihr und eine rasch anwachsende Menschentraube auf dem Gang versperrte ihr den Weg. Irgendjemand stieß sie auf die Knie.
»Seid ihr wahnsinnig?«, rief sie.
Da erreichte Simons Vater die Stelle, an der sie kniete, und schlug ihr ins Gesicht. Sie schrie. Mir wurde schlecht. Ich wollte mich abwenden, aber es gelang mir nicht …
»Hörst du mir eigentlich zu?« Die Art, in der Georg seine Stimme hebt, bringt mich jäh ins Hier und Jetzt zurück. Sein Arm löst sich von meinen Schultern und er lässt mich frei. Ich mache einen Schritt zurück.
Aus dieser kurzen Distanz sehe ich seine Augen zornig blitzen und wage es nicht, den Kopf zu schütteln. »Entschuldige«, flüstere ich.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fährt er donnernd fort. Von seiner Sorge um mich ist nichts mehr zu sehen. »Umso weiter wir gehen, umso mehr schweifst du ab. Ich tue das hier für dich! Wenn du es nicht willst, dann …« Er unterbricht sich und atmet dreimal tief ein und aus. Ich kann förmlich sehen, wie er sich zur Beherrschung zwingt. Meine Augen wandern zu seiner Hand. Sie ist zur Faust geballt und zittert, als stünde sie kurz vor der Bewegung. Ich bekomme Angst.
»Es tut mir leid«, setze ich erneut an und sehe wieder in seine Augen, aber er winkt ab.
»Schon gut, lass uns weitergehen!« Wie zuvor nimmt er mich bei den Schultern und zieht mich noch näher an sich heran.
Dann laufen wir weiter. Ich recke den Kopf und schaue ihn an. Sein Gesichtsausdruck ist streng. Die Augen starr geradeaus gerichtet. Die Stille zwischen uns ist anders als zuvor. Nicht vertraut oder tröstlich oder wenigstens gleichgültig. Sie ist zum Zerreißen gespannt und geradezu greifbar. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, was er zuletzt gesagt hat, aber ich finde den Mut dazu nicht.
Also schweigen wir. Georg führt mich die gerade Straße entlang, während die Sonne endgültig hinter den fernen Baumwipfeln verschwindet und alles um uns herum dunkel und grau zu werden beginnt. Schließlich entdeckt Georg ein weiteres Kreuz am Straßenrand.
»Was war es hier?«, fragt er. Seine Stimme ist leiser als zuvor. Sein Atem geht ruhiger.
Ich schließe die Augen, um die Welt vor mir auszuschließen. »Da hat einer seine Tochter erschlagen«, erkläre ich mit brüchiger Stimme. »Bitte. Bitte lass mich nicht weiterreden.«
Ich traue mich kaum, ihn anzusehen, aber diesmal ist Georg nicht wütend. Er legt auch den zweiten Arm um mich und küsst meine Stirn. Ich kann mich in seiner Umarmung nicht ganz entspannen, aber ich versuche es.