DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
Er schaut in Richtung Waldrand und kratzt sich am Kopf. »Die glauben nicht an die Strahlung.«
»Oh.« Ich zertrete noch mehr Moos auf dem Boden. »Und die haben auch Kinder?«
»Quatsch. Alte Leute sind das. Eh schon halb tot.« Er schaut mich skeptisch an. »Wär auch was krank, hier Kinder mit hinzunehmen, oder?«
»Auf jeden Fall.«
Dmitri formt mit den Händen einen Trichter und ruft über den Platz: »Es geht weiter. Diesmal zu Fuß!«
Im Gänsemarsch setzen wir uns in Bewegung, ich in der Mitte. Dmitris Motto Immer in der Gruppe bleiben ist jetzt auch meins. Das Kinderlachen scheint sich nur herauszutrauen, wenn ich alleine bin.
Über einen Waldpfad kommen wir zu der mit Schlaglöchern übersäten Hauptstraße von Prypjat. Die Arbeiterstadt besteht aus dreckig grauen Plattenbauten, hinter den schwarzen Fenstern ahne ich Kinderaugen, die unseren Marsch beobachten und mir ein flaues Gefühl im Magen verursachen. Die endzeitliche Szenerie scheint auch die Euphorie der anderen zu dämpfen und schweigend ziehen wir an den gleichförmigen Wohnblöcken vorbei. Prypjat ist schnell gewachsen damals, für das Kraftwerk wurden Arbeiter gebraucht.
Schließlich halten wir vor einem der Häuser. Die meisten der grünen Kacheln an der Fassade fehlen, die Scherben verstecken sich zwischen Laub und Moos. Die Haustür ist verschwunden und wie ein Wächter sitzt eine Birke auf den Stufen, lehnt sich hinüber, um die offene Wunde des Hauses zu schützen. Wir quetschen uns daran vorbei und gelangen über den dunklen Flur in eine der Wohnungen.
Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Leute dachten, sie würden wiederkommen und ließen ihre Sachen hier. Auf der Nussbaumkommode steht ein verblichenes Bild. Vater, Mutter, Kind, alle steif hergerichtet für den Fotografen. Velma findet einen Brief und diskutiert mit Bartmann die beste Darstellung für den Blog. Ich komme mir vor wie ein Einbrecher. Ob die Person noch lebt, der das alles gehört?
Das Atmen fällt mir immer schwerer und schwarze Sterne blitzen in der Luft. Ich flüchte auf den Flur, lehne mich an die Wand und atme tief durch, bis der Schwindel nachlässt. Und ich dachte, ich komme mit dieser Tour klar.
Ich kneife die Augen zusammen, stoße mich von der Wand ab und gehe wieder in die Wohnung. An der Schwelle stolpere ich zurück. Meine Begleiter sind verschwunden, stattdessen sitzt ein Mann am Esstisch. Sein Gesicht ist in den Händen vergraben und die Schultern in dem grauen Arbeiterhemd beben.
Ich schaue mich um, blicke den Flur entlang. Wo sind die anderen hin? Unschlüssig stehe ich im Türrahmen und klopfe dann gegen das Holz.
»Entschuldigung«, sage ich leise, »kann ich Ihnen helfen?«
Langsam richtet sich der Mann auf. Seine Augen sind gerötet und Tränen fließen über das zerfurchte Gesicht, wie ein Gebirgsbach durch schmale Schluchten. Er schaut mir direkt in die Augen und eine Welle aus Hass und Wut überrollt mich. Schuld drückt meine Schultern nieder und ich schäme mich so sehr, dass ich mich zusammenkrümmen möchte. »Ich … Es tut mir leid«, hauche ich und denke an Oma.
Ich taumle zurück. Wir müssen hier raus. »Dmitri?« Meine Stimme hallt durch den leeren Flur. »Leute, wo seid ihr?«
Der Mann sitzt noch immer dort, starrt mich an. Dann öffnet er den Mund und es ertönt ein Lachen. Es haut mir die Beine weg, mir wird schwarz vor Augen. Dieses Lachen gehört nicht dem Mann, es gehört einem unbeschwerten, jungen Mädchen und es verfolgt mich schon den ganzen Tag. Hockend stütze ich mich mit den Fingern am Boden ab. Das kann nicht wahr sein. Ich muss hier weg.
Ich kämpfe mich durch den Dunst in meinem Kopf und richte mich auf. Nur raus. Anstelle des Ausgangs finde ich ein Treppenhaus. Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ich poltere die Stufen hinunter, ich strauchle, halte mich an dem Geländer fest und springe weiter. Zwei, drei Stufen auf einmal. Nach gefühlt fünf Stockwerken bleibe ich schnaufend stehen. Verdammt, wie hoch sind wir denn gelaufen? Ich schaue aus dem Fenster. Okay, circa dritter Stock. Das schaffe ich. Diesmal zähle ich mit. Zweiter Stock, erster Stock und … das kann nicht sein, die Treppe führt immer weiter. Ich schaue wieder aus dem Fenster und keuche. Die Erde befindet sich genauso weit unter mir wie vorher. Mir wird schlecht, Galle drängt in meinen Mund. Ich kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen.
Die anderen müssen noch irgendwo sein. Ich muss sie finden. Ich biege ab in den Flur. Das erste Zimmer – derselbe Mann steht in der Mitte des Raumes, schaut mich klagend an. Ich haste weiter. Hinter der nächsten Tür empfängt mich wieder der Alte, doch diesmal hält er ein Mädchen in den Armen, schlaff hängt es dort. Ein Wimmern in meiner Kehle, als ich den rosa Haarreif erkenne.
Orientierungslos schleppe ich mich weiter durch den Flur. Und plötzlich ist die Luft voll Lachen. Das kleine Mädchen lacht mich aus. Es lacht und lacht immer lauter. Ich sinke auf die Knie, presse mir die Hände an die Ohren. Ich hätte nie herkommen dürfen. »Es tut mir leid!«, schreie ich dem Lachen entgegen. Der Boden beginnt zu zittern. Das dröhnende Lachen geht durch meine Knochen, nimmt mir die Luft zum Atmen. Risse wandern an den Wänden entlang und Dreck rieselt herab. Die gewimmerten Entschuldigungen erreichen nicht einmal meine eigenen Ohren.
Plötzlich sehe ich durch den Staub eine alte Frau am Ende des Flurs. Sie kommt auf mich zu und scheint den Untergang um uns herum nicht zu bemerken.
Die Greisin bewegt ihre Lippen, doch ich höre nur das Lachen. Sie sagt erneut etwas und wie zur Bestärkung klopft sie mit dem Stock auf den Boden. Und dann ist es still. Vorsichtig befreie ich mein Gehör. Nichts mehr. Ich setze mich langsam auf.
»Was …?« Meine Stimme bricht. Ich wische mir durch das Gesicht und stelle fest, dass es tränennass ist.
»Alles gut. Du brauchst keine Angst mehr haben.« Die Falten auf ihrer Stirn vervielfachen sich kurzzeitig und ihr Blick geht ins Leere. »Nicht wahr, Katinka? Lass die armen Touristen in Ruhe!«
Ich sitze verdattert da und bringe kein Wort hervor. Mein Hirn kommt nicht ganz mit. Die alte Frau lächelt.
»Niemand hier mag Besucher, aber meine Enkelin übertreibt.« Sie humpelt an mir vorbei, der Stock klopft auf den Boden. Tock, tock, tock. Sie dreht sich um. »Willst du hierbleiben?«
Ich springe unbeholfen auf die Füße, ich schwanke, aber hierbleiben will ich auf keinen Fall.
Ich folge der Frau den Flur entlang, durch das Treppenhaus, um eine Kurve und plötzlich stehe ich draußen in strahlendem Sonnenschein. Meine Augen tränen, ich halte meine Hand darüber und blinzle.
»Da bist du ja!« Dmitri kommt auf mich zugelaufen. Es ist, als würde mir ein schnaubender Stier entgegenkommen. »Verdammt noch mal, weißt du, was ich am Hals habe, wenn mir hier jemand verloren geht?« Er macht auf dem Absatz kehrt und geht strammen Schrittes in die Richtung, aus der er gekommen ist. »Los komm, die anderen warten!«, brüllt er, ohne mich anzuschauen.
Ich drehe mich zu der alten Frau und stelle fest, dass ich alleine bin. Vorsichtig schaue ich zu dem Haus und flüstere: »Danke.«
Ich sitze im Van und mir ist kalt. Obwohl die Heizung wieder auf Hochtouren läuft, kann ich nicht aufhören zu zittern.
Es wird alles gut. Ich sitze im Bus, fahre Richtung Kiew, ins Leben, in die Wirklichkeit. Zuhause werde ich einen riesigen Blumenstrauß an Omas Grab legen. Sie wird es verstehen. Die alten Sitzpolster schmiegen sich an mich, geben mir Halt und ich versuche, mich zu entspannen.
Eiseskälte durchfährt mich und mit einem Ruck richte ich mich auf. Dort am Waldrand steht sie – die alte Frau. Sie lächelt und winkt. Langsam hebe ich die Hand und bewege sie vorsichtig. Sie hat mich gerettet, oder?
Plötzlich flackert die Frau, wie ein gestörtes Fernsehbild. Sie verschwindet und an ihrer Stelle erscheint ein kleines Mädchen mit einem rosa Haarreif. Es lächelt und winkt.
Die