DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz

DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Michael Birke Lutz


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dem Fliegen warte,

      bis dir Flügel wachsen!

      Serbisches Sprichwort

      Sarajevo, Malo Polje 2017

      Seit ich Anka geheiratet habe, war es ihr Traum, in die Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren. Ich verband bis dahin nichts mit Sarajevo, aber nicht mitzukommen, wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Einen Deal rang ich ihr deswegen gleichwohl ab: Seit vielen Jahren galt mein Interesse dem Wintersport und insbesondere dem Skispringen. Diese Leidenschaft hatte ich von meinem Vater geerbt, mit dem ich schon als Bub vor dem Fernseher unseren Helden Thomas Klauser, Dieter Thoma und anderen die kleinen Daumen gedrückt hielt. Daher lag es für mich mehr als nahe, einigen ehemaligen Olympiastätten von 1984 einen Besuch abzustatten, in erster Linie natürlich der Skisprunganlage am Berg Igman südlich von Sarajevo. Es waren damals erst meine zweiten Olympischen Spiele gewesen, die ich bewusst vor dem Fernseher miterlebte. Der Sieger von der Normalschanze begleitete danach mein sportliches Fernsehleben viele Jahre: Jens Weißflog, auch wenn er damals für die DDR startete und das für mich nichts anderes als Ausland war.

      So verließen wir das laute Sarajevo an einem Mittwoch im Herbst zu unserem Ausflug in die Abgeschiedenheit der Berge, der nur für mich der Höhepunkt der Reise sein sollte. Anka konnte sportlichen Entscheidungen nichts abgewinnen, nicht einmal beim Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft hielt sie es vor dem Fernsehgerät aus, zumal sich Bosnien noch nie für die Endrunde qualifiziert hatte.

      Der von der Verwandtschaft geliehene Peugeot quälte sich untermotorisiert die Straße hinein in das Bergmassiv und deshalb dauerte die Fahrt eine Stunde, bis schließlich das Ziel auftauchte: die Skisprunganlage, von den Einheimischen Malo Polje genannt, einst für kurze Zeit ein Ort überquellenden Lebens und überschwänglicher Freude. Doch der im Jahr 1992 beginnende Bosnienkrieg ließ alle zivile Nutzung hier oben erstarren, weil die Passstraße zeitweilig die einzige Verbindung des von serbischen Verbänden belagerten Sarajevo war. Das Stadion lag daher mitten im Kriegsgebiet. Ehrfürchtig blickte ich vom Parkplatz am unteren Ende des Grasstreifens am Auslauf auf die beiden stählernen Monumente weiter oben am Berg hinauf. Normal- und Großschanze lagen wie niedergestreckte Elefanten in einem sie umschmeichelnden Märchenwald. Der Anblick berührte mich auf eine seltsame Weise, die ich mir kaum zu erklären imstande war. Es lag wohl an der Erkenntnis, dass ich genau diesen Ort, bedeckt von einem weißen Mäntelchen, fast fünfunddreißig Jahre zuvor mehrfach im Fernsehen erlebt und in jenen Februartagen für das Zentrum der Welt gehalten hatte. Nun war der Traum eines Besuches wahr geworden, doch wie anders als damals erschien diese Stätte! Einsam und verfallen gaben sich die noch vorhandenen Gebäude und Schanzen ihrer Existenz in einer naturbelassenen Umgebung hin. Die Tannen hatten sich bereits bedrohlich nahe an die Bauwerke herangemacht, auf einer ehemaligen Naturtribüne am Auslauf der Normalschanze wuchsen ungeniert mehrere von ihnen. Leere Fensterhöhlen glotzten uns von einem futuristisch wirkenden Bauwerk entgegen. Unzweifelhaft war die Anlage zu einer Zeit entstanden, in der die Verwendung von möglichst viel Beton noch schick gewesen zu sein schien.

      »Kann ich eine Zigarette haben?«, fragte eine unbekannte Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und blickten einem Mann ins Gesicht, der sich unbemerkt von hinten genähert haben musste. Ein schlaksiger Kerl, sein Alter war auf den ersten Blick schwer einzuschätzen, eher jünger, auch wenn tiefe Furchen sein unrasiertes Gesicht durchzogen. Anka fischte nach der Marlboro-Packung in ihrer Handtasche und streckte sie dem Mann hin, der dankbar danach griff. Nachdem auch mein Feuerzeug den Besitzer gewechselt hatte, steckte sich die Person einen Glimmstängel an und nahm einen tiefen Zug. Anka tat es ihm gleich, ich hielt mich wie immer zurück mit dem Laster, das ich mir schon Jahre vorher abgewöhnt hatte.

      »Schön hier oben, nicht wahr?«, begann der Unbekannte unaufgefordert ein Gespräch. Anka hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich, wollte ich auf Dauer mit ihr zusammen sein, Bosnisch lernen müsse. Weil ich nichts lieber auf der Welt sein wollte, tat ich ihr den Gefallen und besuchte jahrelang abends die Volkshochschule, was mir nun sehr zugutekam. Dort wurde zwar nur serbokroatisch unterrichtet, aber die Unterschiede zwischen den Sprachen sind nicht groß. Deshalb konnte ich den Mann einwandfrei verstehen, wenn ich mich auf seine Worte konzentrierte, worauf ich eigentlich keine Lust hatte. Aber Anka schien einem Gespräch nicht abgeneigt zu sein und gab dem Fremden durch ein zustimmendes Kopfnicken zu verstehen, fortfahren zu können.

      »Aber einsam hier. Sehr einsam. Das war nicht immer so. 1984, Sie verstehen, was ich meine. Wir waren ein so stolzes Volk!«

      Sarajevo, Malo Polje 1984

      Der Erzähler zog erneut lange an der Marlboro und inhalierte den Rauch tief. Dann setzte er seine Erzählung fort:

      »Die Olympischen Spiele. Als das IOC-Komitee seine Entscheidung für Sarajevo bekannt gab, erhob sich im ganzen Land ein wahrer Freudentaumel. Alle, gleich ob Serben, Bosnier, Kroaten, Christen oder Muslime oder wer auch sonst noch alles Jugoslawien bevölkerte, waren stolz, als erstes sozialistisches Land Gastgeber des bedeutendsten Sportereignisses der Welt zu sein. Wir haben damals mehrfach täglich die Wettervorhersage im Radio oder Fernsehen angehört, um zu erfahren, ob der lang ersehnte Schnee endlich fällt. Als er dann kurz vor der Eröffnung kam, sind alle, die konnten, zu den Sportstätten gefahren und haben die Armee bei der Räumung der Tribünen und der Parkplätze unterstützt, denn Gott hatte es gut mit uns gemeint und uns Schnee im Überfluss geschickt. Es war, als ob er uns seinen göttlichen Segen für die Spiele geben wollte. Auch hier oben waren die Menschen unermüdlich im Einsatz, um der weißen Pracht Herr zu werden. Besonders wichtig war es, den Aufsprunghügel zu präparieren, damit die Springen gefahrlos stattfinden konnten. Ich hielt mich in diesen elf Tagen zumeist ebenfalls an diesem Ort auf, wenn ich auch nicht selbst Hand anlegen musste. Damals gehörte ich zum jugoslawischen Springerteam und meine ganze Konzentration galt nur den Wettbewerben.«

      Der letzte Satz ließ mich aufhorchen, denn mit einem leibhaftigen Springer hatte ich noch nie gesprochen. Sollte die Geschichte also stimmen, hätte ich einen Zeitzeugen olympischer Spiele, die vor langer Zeit stattgefunden hatten, vor mir, und ich würde damals seine Sprünge von der Couch aus verfolgt haben.

      »Der Höhepunkt der Spiele war das Springen von der Großschanze. Ehrfürchtig blickte ich von oben hinab in das weit unten liegende Tal. Die vielen Tausend Menschen erschienen von da oben zu einer einzigen schwarzen Masse verschmolzen, die sich über eine weite Fläche auf dem ansonsten makellosen Weiß der Welt damals hier am Igman ausbreitete. Das Raunen der Zuschauer schwoll zu einem gewaltigen Sturm an, der wie aus einer fernen Sphäre an meine Ohren drang, als ich mich in der Öffnung am Sprungturm zeigte, weil ich als Nächstes dran war. Für das Fahnenmeer, das sich dort unten nun auftat, hatte ich nur einen kurzen Blick, der jedoch ausreichend war, mir tausend kleine Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Dann stieß ich mich ab, entschlossen, mein Land, so gut es meine Kräfte zuließen, würdig zu vertreten. Doch mit der erhofften Medaille ist es nichts geworden. Zu stark waren die großen Skisprungnationen. Matti Nykänen, Jens Weißflog und andere waren einfach überlegen. Es war ein Irrglaube der Funktionäre, dass man diesen Ländern mit unseren eher bescheidenen Mitteln würde Paroli bieten können. Dennoch war dieser Tag einer der Höhepunkte in meinem Leben, zumindest bis zu dem Moment, als ich mich in der Luft befand. Rasant nahm ich in der Anlaufspur Fahrt auf, der Luftwiderstand wurde immer größer, gleich einer Wand, gegen die man prallt. Dann stieß ich mich mit aller Kraft vom Bakken ab, wenn auch etwas zu spät, wie man mir später mitteilte. Vielleicht ist Ihnen geläufig, dass ein zu später Absprung Weite kostet.«

      Erwartungsvoll sah uns der Mann an. Ich nickte ihm zu, denn über die Symmetrie des Sprunges war ich gut informiert. Dabei sah ich ein Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht huschen, offensichtlich vermutete er in mir einen Experten, zumindest aber einen Interessierten. Warum sonst sollte man auch die Abgeschiedenheit dieser Welt betreten, wenn nicht aus Sportsgeist?

      »Voll Adrenalin segelte ich meinen Landsleuten entgegen, die so geduldig jeden Springer feierten, doch mich ganz besonders, weil ich einer der ihren war«, setzte der ehemalige Springer seinen Bericht fort. »Ich fühlte mich frei wie ein Vogel und mein Trachten war nur darauf gerichtet, nie mehr landen zu müssen, immer weiter und weiter dem unendlichen Blau des Himmels


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