DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
spricht mit einem Kontrolleur, der Pelzmütze und Sturmgewehr trägt. Sie lachen rau und schlagen sich auf die Schultern. Schließlich wird die Schranke geöffnet und wir fahren in die Todeszone. Von hier sind es dreißig Kilometer Luftlinie zum Reaktorblock vier.
Der Motor dröhnt. Auf dem Zweier neben mir zerquetschen sich Velma und Bartmann fast ihre Hände. Luca und Matteo halten die Münder geschlossen und die Augen offen, als hätten sie Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.
Ich habe mich informiert. An einem Tag in Tschernobyl bekommt man so viel Strahlung ab wie auf einem einstündigen Flug. Absolut ungefährlich. Oma hatte sich nie wieder hergetraut. Oft erzählte sie mir, wie es damals gewesen ist, aber begriffen habe ich es nie. Ich muss sehen, wozu der Mensch fähig ist, die Auswirkungen mit eigenen Sinnen spüren. Um endlich zu verstehen. Meine Hände reibe ich an der Jeans trocken und klemme sie unter die Achseln.
Der Kindergarten hockt bleich hinter den Brombeersträuchern, ein ausgetretener Pfad führt durch das Dickicht zu weißen Flügeltüren. Langsam gehe ich auf das Haus zu. Von den blauen Holzrahmen blättert die Farbe, die meisten Fenster fehlen oder sind zerbrochen. Das Dreirad auf der Veranda wird wohl kein Kind mehr zum Lachen bringen, zwei der Räder fehlen.
Im Laub sehe ich blonde Haare, weiße Rüschen. Ein totes, blaues Auge starrt mich an und ich fange an, in meiner Daunenjacke zu schwitzen. Es ist nur eine Puppe, kein Grund nervös zu werden.
Ein Schrei lässt mich zusammenfahren.
»Vierzehn Komma sechs!« Durch die blätterlosen Sträucher sehe ich Velma vor einem kleinen Erdhaufen auf und ab hüpfen. Ihr Geigerzähler piept den Rhythmus dazu. Meine Reisekollegen schwirren umher wie Bienen, die den Honig suchen, die gelben Geräte knattern und weisen den Weg zum nächsten Hotspot. Wer die höchste Strahlung findet, darf sie behalten.
Ich werfe einen Blick auf mein Messgerät. Es zeigt einen Wert von vier Komma sieben Mikrosievert – weit entfernt von normal. Ich sehe diese Zahlen und versuche, mir vorzustellen, wie die Strahlen sich in meine Zellen drängen, immer tiefer, bis die Moleküle auseinanderbrechen und meine DNA mutiert. Versuche zu begreifen, dass diese unsichtbare Gefahr Zehntausende Menschen dazu gezwungen hat, ihre Wohnungen und alles darin zurückzulassen. Und jetzt stehen wir hier und machen Fotos von ihrem verlorenen Leben.
Das Gejohle klirrt in meinen Kopf. Ich erinnere mich an ein Foto, das vor Kurzem einen Shitstorm ausgelöst hatte. Zwei Mädchen mit strahlendem Lächeln, Victoryzeichen und über ihren Köpfen »Arbeit macht frei«.
Ich wende mich von den anderen ab. Zwei Stufen führen auf die Veranda des Kindergartens, das brüchige Holz knarrt unter meinen Winterstiefeln. Die Flügeltüren stehen offen und mit klopfendem Herz betrete ich das alte Gebäude. Betonbrocken und Berge von altem Laub erschweren den Weg in das erste Zimmer. Verrostete Metallgestelle füllen den Raum, dann erkenne ich ein kleines Bett neben dem anderen. Die Matratzen sind verrottet und die Tapete hängt von den Wänden. Fünf Tage hat es gedauert, bis dieser Ort nach dem Unglück evakuiert wurde. Fünf Tage, an denen Jungen und Mädchen hier gespielt und geschlafen haben.
Ich schleiche weiter. Überall liegen Bücher, lose Seiten bedecken die Holzdielen. Auf einer Fensterbank sitzen vier Puppen mit hochgestreckten Ärmchen und winken mir zu.
Im Türrahmen des nächsten Zimmers bleibe ich stehen und ziehe die Luft scharf ein. Der Boden ist übersät mit Gasmasken. In der Mitte des Raumes steht ein roter Stuhl, der Lack blättert ab. Darauf sitzt stolz eine Puppe mit Maske. Die Herrin der Masken.
Hinter mir knarrt eine Diele. Ich zucke herum. Nichts zu sehen. Das Haus ist alt und heruntergekommen, natürlich macht es komische Geräusche.
Dann höre ich die Kinder. Sie lachen. Und es ist, als würde mir eine kalte Hand in den Nacken packen, ein Kribbeln läuft über meinen Körper. Bewusst langsam atme ich ein und wieder aus. Ich lausche und höre außer dem Rauschen meines Blutes nichts.
Eine feste Hand packt mich an der Schulter. Ich fahre herum und sehe Dmitris grimmiges Gesicht. »Immer in der Gruppe bleiben.«
Ich zittere. »Sorry.«
Luca und Matteo poltern mit gezückten Handys an mir vorbei und die Herrin wird zum Shootingstar. Ich warte im Flur, bis wir weiterfahren.
Wie kleine Sonnen leuchten uns die Gondeln des Riesenrads über die Bäume hinweg an. Wir fahren zum Freizeitpark und sofort habe ich den Geruch von gebrannten Mandeln und Bratwürsten in der Nase. Ich höre das Bimmeln der Fahrgeschäfte, Ansagen von übermotivierten Schaustellern. Wir steigen aus dem Bus und es ist still. Mein Trommelfell zieht sich zusammen, verkrampft sich in dem Bemühen, das zu hören, was ich erwarte.
Nebeneinander stehen wir vor dem Van und keiner traut sich, die Mauer der fehlenden Geräusche zu durchbrechen. Dann klatscht Bartmann in die Hände. »Los geht’s!«, ruft er, als müsse er sich selber antreiben und stapft mit Kamera und Stativ los. Velma hinterher. Luca und Matteo lachen und schon stehe ich alleine da.
Meine Füße scheinen festgewachsen zu sein. Das mächtige Riesenrad wacht über den Platz. Auf dem von Gras durchbrochenen Beton kauern Autoscooter, wirken wie blassgelbe Mäuse, die sich verstecken, um zu sterben.
Ich schüttle meinen Kopf frei und gehe zu dem Karussell, dessen Holzsitze fast vermodert sind, suche mir einen noch einigermaßen intakten Sitz. Po und Oberschenkel kribbeln, als sie sich auf das verstrahlte Holz drücken. Die Füße baumeln in der Luft, ich schließe die Augen und versuche mich zu sammeln. Ich wollte hier hin. Und ich will diese Erfahrung immer noch.
Mit einem Ruck setzt sich das Karussell in Bewegung und im selben Moment höre ich die Kinder lachen. Ich öffne die Augen und kralle mich an die Armlehnen. Die Konstruktion bewegt sich nur widerwillig, Metall kreischt und Rost rieselt herab. Und doch werde ich immer schneller, mein Rücken drückt gegen die Lehne. Ich bin wie erstarrt und die Umgebung verschwimmt.
Meine Augen fangen an zu tränen. Ich blinzle. Und noch einmal. Ein paar Reihen vor mir flattern braune Haare im Wind. Velma!
»Heee«, rufe ich, »was ist hier los?« Keine Reaktion.
Mir wird schlecht. Die Bloggerin trägt keinen rosa Haarreif. Und ist viel größer. Der kindliche Fahrgast schmeißt die Arme in die Luft und jauchzt vor Freude. Plötzlich überzieht Raureif meine Arme, die Kälte kriecht in mein Gesicht und die nassen Wimpern gefrieren. Mit geschlossenen Augen fange ich an zu schreien. Ich schreie und auch als mein Hals zu schmerzen beginnt, kann ich nicht aufhören, bis das Karussell langsamer wird. Erst als sich nichts mehr bewegt, wische ich mir über die Augen und versuche durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Das Mädchen ist nicht mehr zu sehen.
Mit wackeligen Knien stehe ich auf und entferne mich halb stolpernd, halb laufend von dem Teufelsding. Dann sehe ich Bartmann, er steht vor dem alten Kartenhäuschen und betrachtet konzentriert das Display seiner Kamera. Schnaufend erreiche ich ihn.
»Oh Mann, wo wart ihr?« Ich reibe mit den Händen übers Gesicht. Ich muss völlig fertig aussehen.
»Hmm, was meinst du?« Bartmann schaut irritiert auf. »Alles okay? Du siehst blass aus.«
»Das Karussell. Es …« Ich schaue hinüber zu dem verrosteten Gestell, das wirkt, als hätte es sich Jahrzehnte lang nicht bewegt, und weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
»Jep, echt cooles Motiv. Sah richtig schön verträumt aus, wie du da gesessen hast.« Er zwinkert.
Mir wird schwindelig. Was passiert hier? Ich setze mich auf den Rand eines Blumenkübels, der einer Bierdose und ein paar Zigarettenstummeln ein Zuhause bietet. Mein Kopf spielt verrückt. Vielleicht reagiere ich heftiger auf die Strahlung als erwartet. Oder ich habe etwas Falsches gegessen. Das Frühstück im Hotel hat wirklich nicht mehr frisch ausgesehen.
»Nicht hinsetzen.« Der Wachhund hat mich wieder gefunden. »Nichts anfassen, bedeutet auch, nicht hinsetzen.« Dmitri zieht die Augenbrauen hoch und glotzt mich an.
Ich steh auf und wische mir abgestorbenes