DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz

DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Michael Birke Lutz


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dass mein Verlobter statt einer Mitgift einfach die Güter vom Hof akzeptiert hat, die er für sein eigenes Haus gebrauchen kann. Unser Haus. Ich weiß das und ich will ihm dankbar sein. Aber es ist nicht Vorfreude, sondern Wehmut, mit der ich unserem Aufbruch entgegensehe.

      Entschlossen, die trübsinnige Stimmung abzuschütteln, wende ich mich vom Haus meiner Eltern ab. »Ja, lass uns gehen«, erwidere ich auf Georgs Worte und gemeinsam treten wir vom Hof hinaus auf die Straße.

      Auch hier ist es still. Genauso wie im Haus und überall im Dorf. Die Häuser stehen verlassen in den Schatten der nahen Bäume. Sanfter Wind zieht an den Ästen, aber es reicht kaum, um auch nur das Laub zum Rascheln zu bringen. Die Ruhe ist schon fast gespenstisch.

      Georg legt wieder einen Arm um mich; nimmt mich in seinen festen Griff, von dem ich mir einzureden versuche, dass er Sicherheit gibt, und führt mich die Straße hinab. Ergeben lehne ich mich an ihn.

      Als wir am Haus der Witwe Schleifer vorbeigehen, beschleunige ich meine Schritte. Ich kann die leeren Fenster sehen, hinter denen einst ihr Schlafzimmer verborgen lag und ich will mich nicht erinnern, was dort geschehen ist. Doch egal, wie schnell ich laufe, die Gedanken, die ich abschütteln will, holen mich nur umso schneller ein. Halten mich genauso fest in ihrem Griff, wie mein Verlobter meine Schultern hält.

      Dort hinter den Fenstern, wo nun alles in Staub und Schatten liegt, habe ich sie gesehen.

      Ich war hinausgegangen, um weiter unten im Dorf Brot zu kaufen. Der Tag war warm und sonnig und ich hatte es nicht eilig. Also lief ich im Schlenderschritt die Straße hinab, wirbelte etwas Staub mit den Schuhen auf und betrachtete, wie die einzelnen Körner im Sonnenschein funkelten. Dann und wann wanderte mein Blick von einer Seite zur anderen auf der Suche nach einem Grund, noch einen Moment länger zu verweilen.

      Dabei entdeckte ich sie: die Witwe Schleifer und meinen Vater. Sie regten sich hinter dem Fenster – halb im Schatten verborgen, aber nur halb. In enger Umarmung versunken teilten sie das Bett miteinander. Und keiner von beiden bemerkte mich, während ich draußen stand und vor Schreck und Wut den Brotkorb fallen ließ.

      Ich wusste, wenn ich sie entdeckt hatte, konnte es auch jeder andere. Und es fiel mir nicht schwer, mir auszumalen, was dann geschehen würde: die Geschichte in aller Munde, ein billiger Lacher mit teuren Folgen. Meine Familie gedemütigt, unser Hof gemieden. Keine Aufforderung zum Tanz beim nächsten Fest. Keine Verehrer. Ich hätte als alte Jungfer enden können.

      Wie konnten sie mir das nur antun? Wie konnte er es? Es drängte mich, sofort zu ihnen hineinzulaufen und ihnen die Frage in ihre roten, verschwitzten Gesichter zu schreien. Meinen Vater hinauszuzerren und all das zu beenden. Doch ich wusste auch, das hätte ihn zornig gemacht und dazu fehlte mir der Mut.

      Lange stand ich da und stellte mir vor, wie es wäre, wäre ich doch nur etwas mutiger. Aber ich sagte nichts und ich bewegte mich nicht. Schließlich ging ich einfach fort.

      Erst einige Tage später schlich ich mich zum Haus der Witwe Schleifer zurück. Ich hatte beobachtet, wie sie hinunter ins Dorf gegangen war und ich wusste, dass niemand sonst auf dem Hof war.

      Leise schob ich die Eingangstür auf und schlüpfte in den engen Flur. Drinnen war es still und ordentlich. Viel zu ordentlich für eine alleinstehende, hart arbeitende Frau. Ich fragte mich, woher in aller Welt sie die Zeit für all die Arbeit nahm, aber ich hielt mich nicht damit auf. Stattdessen schlich ich in eben jenes Schlafzimmer, in dem sie meinen Vater verführt und sich ihm hingegeben hatte. Ich lief zu dem Bett, das ich so sehr verabscheute, und versteckte eine kleine Strohpuppe im Bezug des Kissens. Nadeln und die Kräuter schob ich unter das Stroh, in dem die Witwe nachts ihren Körper wälzte.

      Sobald alles an seinem Platz war, stahl ich mich hinaus. Ohne einen weiteren Blick zu verschwenden, verließ ich diesen Unglücksort und kehrte in die Sicherheit meines Elternhauses zurück. Damals war es das noch – sicher.

      Wir folgen der leichten Biegung der Straße – weg von dem Unglückshaus, dessen Anblick mich so quält – und Georg entdeckt die beiden dünnen Äste, die dort zu einem unscheinbaren Kreuz zusammengebunden worden sind. Sofort bleibt er stehen und zeigt darauf.

      »Ist das hier der Ort, wo die Frau gefunden wurde?«, fragt er mich. »Du weißt schon, die, an der euer Metzger sich vergangen hat?«

      Seine Augen funkeln beunruhigend, während er spricht, und ich schüttle den Kopf – um zu verneinen und um dieses Bild seiner funkelnden Augen gleich wieder loszuwerden.

      »Nein, hier haben die Dorfjungen eines der Mädchen so fest mit Steinen beworfen, dass…« Ich breche ab. »Können wir einfach weitergehen? Bitte!«

      Kurz sieht es so aus, als wäre Georg unzufrieden mit mir, doch dann wird sein Blick gleich wieder sanfter und langsam nickt er: »Natürlich, Liebes.«

      Er geht weiter und ich bleibe an seiner Seite. Noch immer hält er mich in seinem Arm, und während der Abend dunkler und kühler wird, versuche ich, die Wärme zu genießen, die von seinem Körper ausgeht.

      »Es ist schwer, sich vorzustellen, dass hier einmal Kinder gespielt haben«, sagt Georg nach einer Weile. »Es ist alles so still.«

      Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mich blind führen. »Die Letzten sind schon vor einem Jahr weggezogen.«

      »Wegen dieses Fluchs?«

      Ich öffne die Augen und nicke.

      »Glaubst du daran?«

      Mein erster Impuls ist es, nein zu sagen. Aber dann würde er fragen, wie ich nach allem, was geschehen ist, nicht daran glauben kann, und eine Antwort darauf möchte ich ihm nicht geben. Stattdessen sage ich: »Ich weiß es nicht.« Und erkenne, dass es ohnehin die Wahrheit ist. Ich weiß es einfach nicht.

      Wir erreichen den kleinen gepflasterten Marktplatz. Ein leckes Fass steht in einer Ecke. Geöffnet und halb verwittert. Sonst ist es genauso still und leer wie überall im Dorf. Es wirkte enger hier, als noch jeder seinen Stand aufgestellt und seine neuesten Erträge verkauft hat. Gemüse, Obst, Brot … Als die Leute sich getroffen und einfach geredet haben. Jetzt ist der Platz so offen und kahl, dass er mir verloren vorkommt. Aber letztlich passt er damit gut zum Dorf und gut zu mir.

      Es war voll und belebt auf dem Marktplatz, als ich meine Freundin Luisa und ihren Mann dort suchte. Ich lief quer über das Pflaster und gab mir Mühe, verwirrt und aufgewühlt auszusehen. Das fiel mir nicht schwer, denn es war erst wenige Tage her, dass ich meinen Vater und die Schleifer beieinander gesehen hatte.

      Luisa kam mir zuvor. Sie entdeckte mich, bevor ich sie entdecken konnte und als sie bei mir war, nahm sie mich sanft beim Arm und zog mich aus dem Gedränge.

      »Was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen.

      Ich schüttelte den Kopf und erwiderte aufgebracht: »Ich kann es dir nicht sagen. Nicht, wenn du mir nicht glaubst!«

      Das brachte Luisa dazu, halb besorgt, halb verärgert die Stirn zu runzeln. »Sei nicht albern!«, entgegnete sie. »Wieso sollte ich dir nicht glauben?«

      Darauf hatte ich keine Antwort, also schüttelte ich einfach noch einmal den Kopf und wandte mich ab. Natürlich hielt Luisa mich zurück.

      »Nun sag schon, was los ist«, drängte sie.

      Wieder schüttelte ich mich und nahm mir noch einen Augenblick, ehe ich endlich antwortete. »Sie ist eine Hexe!«, platzte ich schließlich hervor. »Ich habe sie zaubern sehen!«

      »Wen?«

      »Die Schleifer! Im Garten hinter ihrem Haus.«

      Luisa betrachtete mich einen Moment verdutzt, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

      Sofort fuhr ich herum und machte abermals Anstalten, wegzulaufen. Wieder musste Luisa mich festhalten. Sanft, aber bestimmt schloss sie mich in ihre Arme. Da lief ich nicht weiter weg, aber ich ließ mich noch etwas bitten, ehe ich mich wieder zu ihr umdrehte. Als ich es endlich tat, bohrten sich die Augen


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