DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz

DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Michael Birke Lutz


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Mutter hängte nun jeden Tag das Bettzeug zum Fenster raus, was soviel bedeutete, wie: Einem Familienangehörigen geht es sehr schlecht … Nach und nach kamen sie alle, die weit verstreut lebenden Leute aus der Gegend. Alle wünschten ihm ehrlichen Herzens baldige Genesung. Aber in ihren Augen konnte man lesen, dass sie Abschied von dem alten Herrn nahmen. Sie gingen davon, und kurz darauf starb Vater.

      Sie bebte; stampfte sich die Trauer aus dem Leib.

      Hier ist er gestorben. Hier, wo wir jetzt sind!

      Das wütende Stampfen ihrer Beine wollte nicht enden.

      Da unten sind alle begraben. Vater, Mutter, und … und … und … all die namenlosen Seeleute, beeilte sie sich zu sagen.

      Unendlich mutlos hielt sie inne. Ihre Tränen brachen in kleinen Bächen hervor. Der Mann zog sie an sich – sanft, ganz behutsam.

      Das Gewitter verzog sich.

      Die dampfende Luft klarte auf.

      Zeit zu gehen. Er hätte ihr gern noch etwas Aufmunterndes gesagt, doch sein Kopf war so schwer vom Erzählten, dass er nur mitfühlend hinabsank, in ihr Haar; in das feuchte, nach Seetang riechende Haar.

      Einige Minuten vergingen noch. Sie lösten sich voneinander, stiegen schweigend die Stufen hinab. Unten angekommen sah er linker Hand zur Außentür eine in die Wand eingelassene Schrifttafel, die ihm vorhin nicht aufgefallen war. Er las:

      Hier lebte einst die Familie Braase. In einer Winternacht des Jahres 1962 löschte der geisteskrank gewordene Jan Braase gewaltsam das Leben seiner Frau, seines Kindes und schließlich sein eigenes Leben, durch den Sturz vom Turmdach, aus.

      Erst Wochen später fanden Bauern aus der weiteren Umgebung die nackten Gebeine der beiden Alten.

      Die Gebeine des Kindes jedoch blieben bis heute unauffindbar.

      Darunter der nüchterne Hinweis:

      Trotz der tragischen Umstände soll dieser Turm als Aussichtspunkt erhalten bleiben. Für fortlaufende Instandsetzungsmaßnahmen benötigen wir auch Ihre Spende.

      Das Bürgermeisteramt in Vietow

      Der Mann spürte deutlich das beginnende Zittern seiner Glieder. Er starrte die Wand an – ungläubig, verwirrt, griff nach der zarten Hand, neben sich.

      Doch er griff ins Leere.

      Er sah die Frau davonrennen.

      Sein Rufen half nicht.

      Müde vor Kummer fuhr auch er davon.

      Am nächsten Tag kam er wieder. Auch am übernächsten. Aber der Turm war verwaist. Unermüdlich suchte er wieder und wieder den verlassenen Ort auf.

      Nichts. Keine Menschenseele ließ sich blicken; erst recht keine junge Frau, die in seiner Erinnerung so schön war und unglücklich, dass er schließlich selbst tieftraurig wurde. Dermaßen bedrückt und bald auch ohne jede Lebensfreude, bestieg er am Tag der Abreise den Turm, um sich hinunterzustürzen.

      Da vernahm er hinter sich ein leises Wispern – nein, ein Kichern, wie er es schon einmal gehört hatte …

      Das war ihr Kichern!

      Sein Kopf flog herum.

      Sie war nicht da.

      Die Traurigkeit packte noch härter zu.

      Er trat auf die Empore.

      Noch einen Schritt.

      Da war der Himmel – zum Greifen nah. Und unten, der Friedhof.

      Er entschied sich für den Himmel, rannte die Treppen runter – zwei, drei Stufen auf einmal, aufs Rad, jagte ihr nach – von Schwalben flankiert, durch den Wind, jeden Sturm – ihr hinterher!

      Er sah sich fliegen, lachte hell, rief, schrie – bis er sie – und sich selbst am Horizont erkannte. Und plötzlich weiß er, dass er nicht abreisen wird. Nie mehr!

Fotograf: Sebastian Schwarz

      Das dicke Ende der Maiburger Würste | Bodo Rudolf

      Von der alten Stadt Maiburg an der Ach zeugen verfallene Mauern, auf dem einstigen Marktplatz sprießt Löwenzahn zwischen den Pflastersteinen und in den Ruinen des Rathauses modert der Pilz. Das Flüsschen Ach floss einst durch eine fleißige Stadt, an beiden Ufern lebten rechtschaffene Leute, und so emsig, wie sie schafften, aßen sie auch – Berge von Wurst vertilgten die Maiburger. Und weil all die links- und rechtsachischen Bürger nichts mehr fürchteten als einen wurstlosen Tag, errichteten sie eine Wurstfabrik auf dem Gelände des städtischen Schlachthofes.

      »Katharina’s Grill« am Markt war einer der großen Abnehmer der Wurstfabrik; von morgens bis spät am Abend hing der Duft gebratener Köstlichkeiten über dem Platz und stieg in die Nasen der Passanten. Der eilige Gast ließ sich die Wurst in die Semmel klemmen, beißfaulen Gourmets und Freunden fernöstlicher Küche schnippelte Katharina mundfertige Happen in Pappschälchen, über die sich aus einer Plastikflasche rülpsend eine grützrote Tunke ergoss. Die Liebe zu gebratener und gesottener, gerauchter und roher, kalter und heißer Wurst einte die Maiburger Gesellschaft in kulinarischer Harmonie.

      »Vor der Currywurst sind alle gleich!«, sagten die Bürger. Bis zu den wunderlichen Ereignissen, von denen nun die Rede sein wird.

      Es geschah an einem späten Samstagvormittag. Um einen der Stehtische hatte sich wie jeden Wochentag ein Freundeskreis rüstiger Rentner versammelt. Der zweite Tisch war von Wochenmarktbesuchern umringt. Ihre gefüllten Taschen und Körbe verstauten sie unter den Tischen und freuten sich auf eine Bratwurst mit Senf und eine Büchse Bier. Kaum hatten die Gäste in ihre Wurst gebissen, verspürten sie ein Zwicken in den Rippen und ein Kneifen in der Brust, ein Ziehen im Nacken und ein Zwacken in den Gedärmen, leise knisterte es in den Ohren, ganz maria-magdalenisch wurde es den Leuten zumute. Verwundert gaben sie dem eiskalten Bier die Schuld, dann aber schrumpften ihre Taillen, die Haut straffte sich über den Bäuchen und Backen und Wangen, ganz zum Vorteil einiger. Die willkommene Verjüngung währte jedoch nur kurz. Mit einem Geräusch, als entweiche ein letztes Quäntchen Luft aus einem Luftballon, hatten sich Katharinas Grillbesucher selbst in Würste verwandelt, in Würste mit Armen und Beinen, Händen mit Wurstfingern, dicken Hälsen und Köpfen. Hochnotpeinlich berührt standen sie nun Wurst an Wurst, blickten betreten gen Himmel und machten sich nach einer Weile wortlos auf den Heimweg. Ob des gespenstischen Anblicks wandelnder Würste leerte sich der Marktplatz im Nu.

      Alle noch unverwursteten Maiburger und Maiburgerinnen ereilte am Abend, sei es zu Hause vor den leergeputzten Hausmacherplatten, sei es im Restaurant bei der Metzelsuppe, ausnahmslos dasselbe Geschick. In den Wohnungen der Hundehalter kam es augenblicklich zu mörderischen Kämpfen. Mit Mühe, Not und Glück gelang es Herrchen und Frauchen, ihre geifernden Lieblinge auszusperren. Vielstimmiges Hundegeheul erfüllte die erste Nacht der Maiburger Verwurstung, unbedarfte Nachtschwärmer verschwanden spurlos.

      Sonntagfrüh wurden zweiunddreißig gutgläubige Kirchgänger ungeachtet der nächtlichen Kakofonie – »ach, die wollen doch nur spielen« – von den herrenlosen Bernhardinern, Doggen, Schnauzern und Terriern angefallen und aufgefressen. Einige Unglückliche ereilte das Schicksal vor dem Besuch des Gottesdienstes, andere, wohlversehen mit dem Segen, danach.

      Die ob des Massakers alarmierte Polizei, nunmehr Landjäger, wusste sich nicht anders zu helfen, als in die mittelalterliche Asservatenkammer derer von Maiburg einzudringen und sich in die Ritterrüstungen zu zwängen. Mithilfe der Hellebarden und Morgensterne gelang es, die Tiere, einschließlich einiger Katzen, aus der Stadt zu treiben. Die Stadttore wurden geschlossen.

      Montagfrüh eilten einige mutige Bürger ins Rathaus und erhielten von der Obrigkeit die Empfehlung, Ruhe zu bewahren, im


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