DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz
sagten die Experten, und belegt durch Umfragen, dass die Zusammensetzung des Rates nicht mehr den Volkswillen repräsentiere. Es hob sich ein Sturm der Entrüstung. Auf fünf Jahre sei man gewählt, demokratisch, keinesfalls dürfe man dem Druck der Straße nachgeben. Der Saure Zipfel sprach einer Politik der harten Hand das Wort und schlug vor, zur Verstärkung der verbliebenen Landjäger auswärtige Hotdogs anzufordern.
»Ausgerüstet mit Harzer Knüppeln!«, empfahl der Schwartenmagen.
Die Leberwurst hatte die Königsidee: »Blutegel! Blutegel aussetzen, und das Problem ist gelöst.«
Die Ratsblutwurst schwieg, was den Ratskollegen wohl im Nachhinein verdächtig vorgekommen wäre, hätte es denn ein Nachhinein gegeben.
Ob man vergessen habe, dass Hilfe von draußen nicht zu erwarten sei, sagte ein resignierter Bürgermeister.
Die Räte blickten ratlos zur Decke, da flog die Tür auf, der Blutwurstführer stürmte, mit einer Hutnadel fuchtelnd, in den Saal und schrie: »Schluss mit dem demokratischen Wurstsalat, der Rat ist abgesetzt, alle Mann in den Keller.« Ratsblutwurst und Blutwurstführer verriegelten gemeinsam die Kellertür, beorderten eine Zucht- und Ordnungswache vor das Rathaus und eilten in den »Wurstkessel«. Dort harrte eine brodelnde Wurstsuppe ihres Führers, der geplante Putsch war seit Tagen offenes Geheimnis. Der »Kessel« platzte schier aus den Schweißnähten, Freibier floss in Strömen, und gegen den Hunger gab’s Braunkohl und Rouladen.
Endlich ertönte der Ruf – »Heil, Blutwurst, heil« –, der Blutwurstführer schritt unter den Klängen des Filetiermarsches durch ein Spalier von Blutgruppenführern, erklomm das Rednerpult und ergriff das Wort.
»Blutwürste!«, rief er in den ergriffenen Saal. »Nach schweren Kämpfen ist das Rathaus in unserer Hand. Blut- und Bodenwürste! Jetzt wird aufgeräumt, ich dulde kein fremdes Gekröse in meiner Heimatstadt!«
»Heil, Blutwurst, heil!«, brauste der Schlachtruf durch den siedenden »Kessel«, »Rotwurst verrecke!«
Während sich der Führer mit Braunkohl stärkte, peitschte die Propagandawurst die Menge auf: »Kameraden, ab heute stehen wir wie eine Wurst hinter unserem geliebten Führer!«
Krachend stürzten Bierbänke um, die Kameraden riss es empor, voll glühender Begeisterung stürmten sie die Bühne, hinter dem Kohl speisenden Führer wurde es eng. Der Blutwurstführer legte den Löffel ab und erhob sich, augenblicklich herrschte atemlose Spannung.
»Heil euch!«, schrie er in den »Kessel«. Aber statt des erhofften Heils ertönte ein Donnerschlag, unter dem Druck des blähenden Braunkohls zerbarst der Führer in tausend Fetzen. Die Detonationswelle und die herumfliegenden Führerwurstzipfel brachten die Blutgruppenführer in den vordersten Reihen zum Platzen, das Platzkonzert setzte sich fort bis in die hinteren Ränge. Nach dem letzten Rums-Bums ebbte der Lärm ab und nun schwappten die Wurstmassen blubbernd aus den Kaldaunen wie Lava aus dem Inneren der Erde. Geistige Flatulenzen, unverdaute Gedanken und halb vergorene Ideen, Faulgase und Alkoholdämpfe schwängerten die Luft. In einem der Aschenbecher musste wohl noch ein Funke Begeisterung geglommen haben, das gesättigte Gasgemisch entzündete sich und der »Wurstkessel« flog in die Luft. Der glühende Kesseldeckel landete im Dachstuhl des Rathauses und setzte das Gebälk in Brand, die Flammen griffen auf die Nachbargebäude über und fraßen sich durch die engen Gassen. Der Feuersturm ließ die Mauern einstürzen, fette schwarze Wolken und beißender Gestank verkohlter Wurst hingen über dem Tal der Ach.
Kaum waren die Brände erloschen, drangen streunende Hunde durch die Mauerbreschen in die Stadt und stöberten nach Überresten.
Verflucht | Nele Sickel
»Hier«, flüstere ich und klammere mich an Georgs Hand. »Hier hat er sie erschlagen.«
Georg zieht mich näher zu sich und legt einen Arm um mich. »Dein Vater?«, fragt er.
Ich nicke und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Seine Umarmung ist etwas zu eng, zu fest, um angenehm zu sein, aber in diesem Moment bemerke ich es kaum. Innerlich reise ich in die Vergangenheit.
Ich kann sie noch immer schreien hören. Erst meine Mutter, dann meinen Vater, dann wieder meine Mutter – dieses Mal schrill und schmerzerfüllt. Ich höre den dumpfen Schlag, mit dem ihr Körper auf den Boden des elterlichen Schlafzimmers prallt. Die Stille, die darauf folgt. Am meisten erinnere ich mich an die Stille.
Damals stand ich nicht im Schlafzimmer. Ich war unten in der Küche, lauschte und traute mich nicht hinauf. Die Stille ängstigte mich mehr als all der Lärm zuvor. Wie erstarrt saß ich da, in einer Hand das Schälmesser, in der anderen eine Rübe. Eigentlich wollte ich beides fallen lassen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte aus dem Haus laufen, aber auch das konnte ich nicht. Steif und verloren hockte ich in der Küche und wusste einfach nicht, wohin.
Solange nicht, bis mein Vater nach mir rief. Ich werde nie vergessen, wie verzweifelt seine Stimme in diesem Augenblick klang. Nicht zornig, einfach nur verzweifelt. Das ließ mich den Mut finden, zu ihm zu gehen.
Mit fahrigen Bewegungen stand ich auf und ließ die halb geschälte Rübe auf den Tisch sinken. Ich wollte das Messer danebenlegen, aber eine kaum greifbare Eingebung ließ mich die Hand zurückziehen. Anstatt das Messer wegzulegen, verbarg ich es unter meiner Schürze, ehe ich hinaufging.
Oben fand ich ihn. Gebeugt und zitternd kniete er über dem zertrümmerten Körper meiner Mutter. Rote Striemen leuchteten auf seinen Armen, da, wo ihre Fingernägel ihn erwischt hatten. Er hielt sein Gesicht in beiden Händen vergraben und schluchzte leise.
»Es war der Fluch«, nuschelte er immer wieder durch seine tränenverschmierten Handflächen hindurch. »Der Fluch! Es tut mir leid. Ich liebe sie doch. Es war der Fluch!«
Ich stand einfach nur da und sah ihn an. Nicht ängstlich – wie er da kniete und weinte, hätte ich niemals Angst vor ihm haben können. Auch nicht wütend. Geschockt vielleicht. Taub. Unwirklich. Die ganze Szene kam mir unsagbar unwirklich vor. Ich wusste, dass er meine Mutter nicht geliebt hatte. Nicht richtig jedenfalls. Dennoch glaubte ich ihm. Sie hatten schon so lange zusammengelebt, dass das Leben des einen ohne den anderen längst nicht mehr vorstellbar war. Er konnte sie nicht einfach so getötet haben. Da musste mehr sein als das. Das musste es einfach.
Irgendwann knieten wir beide neben ihr. Wir hielten einander und wir weinten. Selten habe ich mich meinem Vater so nahe gefühlt wie in diesem Augenblick vor all den Monaten.
»Wir sollten gehen«, meint Georg und seine Stimme so dicht an meinem Ohr erinnert mich daran, wie nah ich ihm nun bin. Physisch zumindest.
Ich sehe zu ihm auf und nicke langsam. Er fragt nicht nach und ich bin froh darum. Ich will ihm nicht erzählen, wie sie gestorben ist. Wie wir um sie geweint haben. Und noch viel weniger will ich ihm erzählen, wie ich meinem Vater geholfen habe, zu verstecken, was er getan hat. Wie die Polizei es doch entdeckt und meinen Vater ins Zuchthaus gebracht hat. Wie schließlich auch er gestorben ist.
Georg zieht mich mit sich die Treppe hinab. Er hält meine Hand fest in seiner und mich beschleicht das Gefühl, dass er mich auch dann nicht losließe, wenn ich ihn darum bitten würde. Doch ich bitte ihn gar nicht. Ich lasse mich ziehen, die Treppe hinab und hinaus auf den Hof. Die milde Abendluft tut mir gut. Sie macht meine Gedanken etwas klarer und schiebt die Erinnerungen ein wenig zurück.
»Du siehst blass aus«, murmelt Georg und berührt meine Wange. »Lass uns etwas spazieren gehen! Es wird ohnehin noch dauern, bis alles eingeladen ist.«
Ich schaue zu, wie zwei von Georgs Knechten die geschnitzte Anrichte aus meinem Elternhaus tragen. Es fühlt sich eigenartig an, zu sehen, wie das Haus, in dem ich mein gesamtes bisheriges Leben verbracht habe, auseinandergerissen wird. Eigentlich müsste ich froh sein. Immerhin bedeutet es, dass mich all diese Dinge in die Ehe und damit in mein neues Leben begleiten werden. Dinge, die es mir