DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte. Michael Birke Lutz

DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte - Michael Birke Lutz


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Sofort tritt Blut aus. Es ist nicht viel, aber genug, um das Gefühl der kühlen Abendluft auf meiner Haut in eine unangenehme Wärme zu verwandeln.

      Sofort denke ich an die Gefahr einer Sepsis. Außerdem frage ich mich, wie viele Menschen sich schon vorher hier geschnitten haben. Oder Tiere. Der Rost, die Bakterien. Lauter Fremdkörper drängen in meine Blutbahn, so wie ich als Fremdkörper in diese Straßenzüge gedrängt wurde. Danke, Mama. Danke, Papa. Danke, für dieses Gefühl von Fremde.

      Der Schotter knirscht unter meinen Schuhen. Sonst ist nichts zu hören. Normalerweise singen die Vögel um diese Uhrzeit besonders laut. Aber heute schweigen sie still. Vielleicht spüren sie, dass etwas in der Luft liegt. Vielleicht spüren sie, dass heute etwas geschieht. Ich werde ausbrechen. Aus diesem Gefängnis.

      Vor mir ragt ein altes Haus in die Höhe. Einsturzgefährdet. Zumindest habe ich das auf einem Schild gelesen, das am Zaun befestigt war. Es ist in den letzten Jahrzehnten nicht zusammengefallen. Warum sollte es also heute geschehen?

      Die Röte der untergehenden Sonne färbt die eigentlich graue Fassade in der Farbe, die der Zaun vor wenigen Augenblicken noch hatte. Das Haus wirkt metallisch, obwohl es aus kaltem Stein ist. Ich lege meine Hand auf die Mauern. Wie alt mag es sein? Ein paar Jahrhunderte hat es bestimmt auf dem Buckel.

      Als wir vor langer Zeit in diese Stadt gezogen sind, hat mich das Haus sofort fasziniert.

      Es liegt ein wenig abseits meines alten Schulwegs, und seit einiger Zeit komme ich jeden Tag am alten Maschendrahtzaun vorbei, der das Haus umgibt.

      Es hat gedauert, aber jetzt ist mir klar, dass dieses Haus meine Karte in die Freiheit ist. Ich zwänge mich durch das Loch.

      Kurz, nachdem ich es damals entdeckt hatte, begann ich im Stadtarchiv zu recherchieren. Ursprünglich wurde das Haus als Wohnsitz gebaut. Es gehörte einer reichen Familie, die der Enge der Großstadt zu entfliehen versuchte und entschied, in dieser Vorstadt sesshaft zu werden. Eine Entscheidung, die ich niemals werde nachvollziehen können. Für mich ist die Vorstadt der Inbegriff der Enge. Eine Gleichschaltungszentrale, die der Pluralität der Großstadt beängstigend Paroli bietet.

      Nachdem die Familie bankrottging, wurde das Haus zwangsversteigert. Der Höchstbietende versuchte, ein Kurhaus aus der alten Villa zu machen. Aber das Kurhaus scheiterte in der beklemmenden Atmosphäre der Vorstadt phänomenal und stand lange leer, ehe ein zwielichtiger Investor eine Stange Geld in die Hand nahm, um das einstige Herrenhaus in ein edles Bordell zu verwandeln. Ein halbes Jahrhundert wurde es betrieben, zur Freude der Männer, die sich abseits des alltäglichen Trotts unter fremde Decken flüchten konnten. Den Ehefrauen stieß es aber sauer auf, was mich kaum verwundert. Es gründete sich ein Aktionsbündnis, dem es tatsächlich gelang, den Sohn des mittlerweile verstorbenen Investors zu einem Umdenken zu bewegen.

      Der Bordellbetrieb wurde eingestampft und stattdessen wurden französische Tänzerinnen verpflichtet, die eine Burlesque-Show inszenierten, die im gesamten Umland einzigartig war. Es war die Glanzzeit dieses Hauses. Von weit her reisten Menschen an, um einer Vorführung beizuwohnen. Die Adresse gewann über die Grenzen des Landes hinaus an Bekanntheit.

      Doch auch dieses Kapitel neigte sich dem Ende zu. Durch die Neuen Medien erhielt die Pornografie Einzug in die Haushalte, wodurch ein Großteil der Kundschaft fernblieb. Sie klebten lieber in ihren Fernsehsesseln und Bürostühlen, als eine weite Reise für eine erotische Inszenierung auf sich zu nehmen.

      Abermals übernahm ein neuer Investor das Haus und versuchte, es in einen Nachtklub umzubauen. Aber die alte Villa wurde nun unter Denkmalschutz gestellt, was den Umbau nahezu unmöglich machte. Nachdem er bereits einen Batzen Geld investiert hatte, beschloss er, dass sich weitere Kosten aufgrund der Lage nicht lohnen würden, und ließ das Gelände wieder brachliegen. Ein Maschendrahtzaun sollte unliebsame Gäste aussperren. Bis heute.

      Ich betrete die Eingangshalle und sehe mich um. Überall hängen Spinnenweben von der Decke. Die Staubschicht ist mehrere Zentimeter dick. Jeder meiner Schritte hinterlässt eine Spur auf dem Parkett. Mein Blick fällt auf alte Bilder, die an der Wand lehnen. Sie erzählen die Geschichte nach, die ich so mühsam im Stadtarchiv recherchieren musste.

      Eine lange Geschichte, die von Höhen und Tiefen geprägt war.

      Es gibt Glanzzeiten und es gibt schwierige Phasen. An ihrem Ende befindet sich nichts als eine grenzenlose Leere. Jeder Versuch scheitert, bis ein Punkt der Stagnation erreicht wird. Viele fürchten die Stagnation. Für mich ist sie das Beste, was passieren kann. Sie bedeutet Ruhe. Frieden. Einsamkeit. Die ständigen Bauarbeiten haben ein Ende. Das Ziel eines endlos wirkenden Marathons, der Zeit, Mühe, Geld und Energie kostet.

      Ich setze mich auf die Stufen der alten Treppe, die in die obere Etage führt. In meinen Taschen wühle ich nach meinem Proviant. Ich habe ihn immer bei mir, nur für den Fall, dass ich irgendwann einen Ort finde, an dem ich ihn verzehren kann. Dieser Ort scheint mir geeignet. Gänzlich in den Fängen meiner frühen Kindheitstage lege ich die Smarties auf meine Zunge und tue so, als seien sie eine wichtige Medikation.

      Mein Gefühl von Fremdheit, das mich in die verlassene Ruine getrieben hat, beginnt langsam zu schwinden. Ich weiß, dass es sich auflösen wird. Ich werde eins mit dem Haus sein. Hier bin ich. Ein Teil der Geschichte. Die neueste Epoche. In meiner Vorstellung tanze ich in den schillerndsten Gewändern zu französischem Chanson. Die Scheinwerfer folgen meinen Bewegungen. Das Publikum wird Zeuge einer einzigartigen Aufführung. Sie sind gekommen, um mich zu sehen. Um zu erleben, wie ich mich befreie. Aus meinen Kleidern. Aus den Engen der Vorstadt. Aus den Zwängen dieses Daseins. Ich habe das Loch im rostigen Zaun nicht nur gefunden. Nein, ich habe mich getraut, es zu durchschreiten. Fortan gibt es keine Zäune mehr für mich. Jetzt bin ich grenzenlos.

Fotograf: Sebastian Schwarz

      Ein strahlendes Lachen | Sarah Hanuschik

      »Und die wichtigste Regel ist: Nichts anfassen.« Dmitri beendet seinen Vortrag in gebrochenem Englisch und lässt das Mikro in den Schoß sinken. Als wenn wir ihn in dem kleinen Van nicht auch so hören könnten. Die Heizung pustet trockene Luft in unsere Gesichter und lässt die blaugelbe Flagge am Armaturenbrett flattern.

      Ich rutsche auf dem Sitz rum, nach zwei Stunden Fahrt tut mein Hintern in jeder Position weh. Mit dem Ärmel wische ich ein Loch in das Kondenswasser. Kahle Sträucher und Bäume ziehen vorbei. Feiner Schnee verziert die Landschaft wie Puderzucker einen verbrannten Kuchen. Mir kommen Omas Worte in den Sinn. Dort macht man keinen Urlaub. Dort herrscht der Tod. Urlaub würde ich es auch nicht nennen. Eher Entdeckungsreise.

      Ein Haus taucht zwischen den Büschen am Straßenrand auf. Die Fensterläden hängen schief in den Angeln, die Scheiben sind zerbrochen. Luca und Matteo, in der Reihe vor mir, konnten sich schon die ganze Zeit kaum auf den Sitzen halten. Redeten, zappelten, machten Selfies und unternahmen einen kurzen Kontaktversuch in meine Richtung. Jetzt sind die beiden Italiener nicht mehr zu bremsen, springen auf und drücken ihre Smartphones an die Scheibe. Erst als das Haus längst außer Sicht ist, setzen sie sich und begutachten ihre Beute. Filter drauf, hochladen, Likes sammeln. Die fotografieren echt jeden verstrahlten Kackhaufen und dabei sind wir noch gar nicht in der Sperrzone.

      Ich sinke in den Sitz und umarme meinen Rucksack.

      Am zweiten Kontrollposten stehen wir bibbernd in der Kälte. Ich sehe die nackten Knöchel der Bloggerin – Nerdbrille und Pagenschnitt wecken Erinnerungen an Velma aus Scooby-Doo – und ziehe meine Mütze weiter über die Ohren. Ihr Freund, bewaffnet mit Hipsterbart und Profikamera, verrenkt sich, um das perfekte, nicht gestellt wirkende Foto zu machen. Die beiden sind, neben mir und den hibbeligen Italienern, die einzigen Verrückten, die bei Minusgraden diesen Tagesausflug unternehmen.

      Ich trete von einem Fuß auf den anderen und beobachte, wie mein kondensierter Atem davonfliegt. Bisher das Spannendste, was ich heute gesehen habe. Wir sind umgeben von Winterwiesen und ein paar grauen Gebäuden in der Nähe der Schranke, die uns an der


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