Palliativ & Zeiterleben. Группа авторов

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      Im vorliegenden Text geht es um das Zeiterleben, also um das Erleben von … Zeit. Nimmt man das binäre Schema, das darin liegt und das hier durch die Leerstelle der drei Punkte indiziert wird, ernst – wir haben einerseits das (objektiv) Intendierte, die Zeit, und andererseits die (subjektive) Intention, das Erleben-von –, liegt es nahe, die Analyse des Zeiterlebens an diesem binären Schema auszurichten, also einmal nach dem durch die Intention (objektiv) Intendierten zu fragen, der Zeit, und dann nach dem (subjektiven) Erleben-von, dem Erleben von etwas als Intention.

      Die hier vorzunehmende Analyse wird sich in ihrer Gliederung an dieser Zweiteilung, aufsteigend vom Objektiven (Teil I) über das Subjektive (Teil II) zum Intersubjektiven (Teil III), orientieren. Aber dabei gilt es zu beachten: Obwohl das Erleben von … Zeit binär schematisiert werden kann, ist es doch eine untrennbare Einheit, nämlich eine vom Erleben der Zeit konstituierte Einheit: es ist Zeiterleben. Denn das Erleben von … Zeit ist eine Aktivität, ein intentionaler Akt, durch den die Zeit selbst zur erlebten Zeit wird: Das in der Intention unterstellte An-sich der Zeit wandelt sich durch sie zum Für-sich. Das heißt, die Zeit wird durch den intentionalen Akt des Erlebens, durch ihr Erleben, zu einem Gegenstand unseres Erlebens oder zu einem Phänomen.

      Aber worin gründet diese Phänomenalität? Sie muss in der Charakteristik des Erlebens selbst liegen. Wäre nämlich das Erleben statisch, z. B. als Widerspiegelung oder als behavioraler Reflex, wäre nicht einzusehen, warum im Erleben der Zeit nicht die Zeit selbst, das An-sich der Zeit zugänglich wäre. Das Erleben ist jedoch dynamisch, d. h. ein Prozess, ein Geschehen, das notwendigerweise der Zeit unterliegt. Also gründet die Phänomenalität der Zeit offenbar in der Zeitlichkeit selbst des Zeiterlebens.

      A 1.3 Zum Status des Zeiterlebens: seine zeitliche Relativität

      Fragen wir nach dem Erleben von … Zeit, dem Zeiterleben, so tritt eine Eigentümlichkeit zutage: Die Zeit, die wir erleben, kommt uns in unserem Erleben, anders z. B. als der Raum, immer schon zuvor (vgl. Theunissen 1991, S. 43 f.). Denn es gibt im Erleben von … Zeit eine diesem Erleben selbst nicht zugängliche Zeit … des Erlebens, und zwar im doppelten Sinne: einmal im Sinne des Geschehens des Zeiterlebens als eines epistemischen Vorgangs, der in einem Zeitfenster bzw. nach einem spezifischen Zeitmuster verläuft, und sodann auch in dem einer Geschichte des Zeiterlebens, in die jeder besondere Akt dieses Erlebens immer schon integriert ist.

      Das heißt, für die vorliegende Darstellung ist nicht nur die Zeit ein Phänomen – sie ist je schon erlebte Zeit –, sondern auch ihr Erleben ist ein Phänomen – es ist je schon zeitliches Erleben. Denn es gibt kein Zeiterleben, das nicht selbst bereits durch das (zeitliche) Geschehen und die (zeitliche) Geschichte des Zeiterlebens bestimmt wäre. Insofern müssen wir aber auch zwischen zwei Formen der Zeitanalyse unterscheiden: derjenigen, die sich entweder dem Geschehen oder der Geschichte des Zeiterlebens, und derjenigen, die sich dem Zeiterleben als solchem, das heißt dem Erleben von … Zeit selbst zuwendet.

      Im ersten Fall handelt es sich um eine wissenschaftliche Analyseform: um eine psychologische oder neurowissenschaftliche bzw. chronobiologische, wenn es um das Geschehen des Zeiterlebens (vgl. Pöppel 1989; Brukamp 2009), und um eine geschichts- bzw. kulturwissenschaftliche, wenn es um die Geschichte des Zeiterlebens geht (vgl. Dux 1992; Kaempfer 1991, 1996). Beide sind durch das Problem der Zirkularität belastet. Jede wissenschaftliche Analyse setzt nämlich bereits ein bestimmtes, geschichtlich konstituiertes Erleben von … Zeit voraus: im Falle der Psychologie oder der Neurowissenschaften das wissenschaftlich »objektive« Zeiterleben und im Falle der Geschichtswissenschaften die in diesem Erleben fundierte Vorstellung einer geschichtlichen Zeit.

      Im zweiten Fall handelt es sich um eine philosophische Analyseform: Sie wendet sich dem Zeiterleben im vollen Bewusstsein der genannten Zirkularität zu. Das philosophische Denken weiß, dass es nur mit dem Phänomen, nur mit dem Für-sich, nicht mit dem An-sich der Zeit zu tun hat: dass ihm die Zeit »objektiv«, als natürliche und geschichtliche, je schon zuvorgekommen ist. Aber es reflektiert dieses Zuvorkommen, das heißt, es ist selbst nicht wissenschaftliche Analyse von Geschehen und Geschichte des Zeiterlebens, aber es anerkennt deren Zeit-Modus: als den einer im Erleben von … Zeit selbst nicht erlebbaren Zeit, die dieses Erleben gleichwohl bestimmt (vgl. Theunissen 2001; Kupke 2011).

      A 1.4 Das objektive Was im Erleben von … Zeit: Fluss und Struktur der Zeit

      A 1.4.1 Zur Idee der Zeit als Fluss: kontinuierliches Übergehen

      Das Erleben von … Zeit von der Zeit selbst her zu denken heißt – versuchsweise –, die Unmittelbarkeit zu rekonstruieren, in der sich die Zeit dem Erlebenden oder vielmehr im Erleben zeigt, d. h. eine egozentrische Denkperspektive einzunehmen. Aus dieser Perspektive erscheint dem Subjekt die Zeit als ein reines, qualitätsloses Übergehen von Einem zu einem immer wieder Anderen, d. h. als Übergehen nicht zu etwas Besonderem, sondern überhaupt zu Anderem: als abstrakte Form von Veränderung. Der russisch-französische Psychiater Minkowski spricht in diesem Zusammenhang unter Rückgriff auf die Zeittheorie Bergsons von Werden (vgl. Minkowski 1933, S. 26 ff.).

      Greift man hier auf den etymologischen Sinn des philosophischen Fachausdrucks »transzendieren« zurück, der wörtlich nichts anderes meint als »übersteigen«, »übergehen«, kann dieses Werden auch als Transzendenz begriffen werden, allerdings als triviale Transzendenz des Seins (das als Zeit verstanden wird) im Unterschied zur gravialen, d. h. ethisch-existenziellen oder theologischen Transzendenz eines Jenseits des Seins. Transzendenz ist in diesem Sinne das Kennzeichen jeden Erlebens; d. h. dieses ist, weil es Zeiterleben ist, über das Erlebte je schon hinaus, hat es je schon transzendiert.

      Diese Transzendenz, dieses Übergehen hat als solches zwei allozentrische Kennzeichen: Kontinuität, also auch Dauer, sowie Richtung. Es erschöpft sich nicht in dem, zu dem es übergeht; es ist Übergang ohne Unterbrechung oder Ende: unendliches, dauerndes Übergehen. Und es besitzt als solches eine Richtung (vgl. Minkowski 1933, S. 26 und S. 45 ff.). Denn es ist nicht Übergang von Einem zum Anderen und von diesem zurück zum Einen, sondern reines lineares Fortschreiten zu immer wieder Anderem, das als Späteres durch den Übergang vom Früheren, vom immer wieder Einen, dauernd abgetrennt wird.

      Der Philosoph McTaggart hat die durch diesen linearen Trennungsprozess entstehende Reihe als »B-Reihe« klassifiziert und ihre Elemente folgendermaßen gekennzeichnet: Jede Position in der Zeit sei früher als einige und später als einige der anderen Positionen. Dabei sei ihre Unterscheidung permanent: Wenn eine Position jemals früher sei als eine andere, dann sei sie immer früher als diese andere (vgl. McTaggart 1908, S. 67). Das heißt, Eines und ein Anderes werden im Übergehen nicht nur linear positioniert, sondern auch fixiert. Man kann, wie es Heraklit sagte, nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Die Zeit ist dieser Fluss: kontinuierliches, stetiges Übergehen in eine Richtung.

      A 1.4.2 Zur Idee der Zeit als Struktur: dynamische Gestalt

      Sobald in der Metapher des Zeit-Flusses der allozentrische Gedanke einer linearen Zeit-Richtung gefasst wird, ist, dem principium significationis gemäß, auch der der entgegengesetzten Zeit-Richtung gefasst. Das ist der logische Grund dafür, warum es richtig ist anzunehmen, dass die sogenannte Modalzeit in der allozentrischen Vorstellung eines linearen Zeitflusses bereits vorausgesetzt wird (vgl. Elias 1984, S. 44 f.; Gloy 2006, S. 164–166). In ihr, der Modalzeit, verdichten sich diese beiden Zeit-Richtungen zu einer spezifischen Zeit-Struktur, in der dem Subjekt sowohl das Frühere, das sich ihm als Vergangenheit zeigt, als auch das Spätere, das sich ihm als Zukunft zeigt, zugänglich ist.

      Diese Struktur wird von McTaggart als A-Reihe gefasst. Im Unterschied zur B-Reihe, deren lagezeitliche Bestimmungen statisch sind – ein Ereignis ist entweder früher oder später als ein anderes (vgl. image Kap. A 1.4.1) – sind die modalzeitlichen Bestimmungen der A-Reihe dynamisch: ein Ereignis, das gegenwärtig ist, war zukünftig und wird vergangen sein (vgl. McTaggart 1908, S. 67). Eben deshalb ist es sinnvoll, statt von einer Reihe von einer dynamischen Gestalt oder einem gegenstrebigen Gefüge zu sprechen: einem Gefüge, das durch zwei Transzendenzen oder Zeit-Strebungen


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