Palliativ & Zeiterleben. Группа авторов

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ff.)? Alles, was in den dimensionalen, auf die Zukunft bezogenen Erwartungshorizont des Bewusstseins tritt, kann prinzipiell Teil der Biographie eines einzelnen Subjekts werden (vgl. image Kap. A 1.5.2). Der Tod jedoch, anders als das Sterben, kann niemals Teil der Biographie des ihn erwartenden Subjekts werden: er ist kein zeitliches Geschehen, sondern gerade das ganz Andere dieses Geschehens, das zeitlos Unbekannte, das in den zeitlichen Selbst-Bezug des Subjektes in keiner Weise eingebunden werden kann. Denn, wie Epikur richtig sagt, gilt für den Tod:

      »Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.« (Epikur 1973, S. 41)

      Das heißt: Durch den Tod wird die ontologisch sekundäre, aber existenziell primäre Erwartungs- und damit Synthetisierungsleistung des Subjekts sistiert. Sie gerät an eine absolute Grenze und damit unter die Herrschaft dieses ganz Anderen, das es nicht mehr relativieren, d. h. in jene zeitliche Synthese implementieren kann, die die einzige Form des Widerstands des Subjekts dagegen ist, vom Strom des reinen ontologischen Verfließens der Zeit aufgesogen zu werden. Dieser Widerstand zerbricht an der Grenze des Todes. Das zeitliche Subjekt ist durch den Tod, der das radikal Zeitlose ist und gerade durch die Zeit auf das Subjekt zukommt, in einer Weise überfordert, dass es an der »Krankheit zum Tode« (Kierkegaard) zu zerbrechen droht.

      A 1.6.2 Die Übernahme des Todes durch die Anderen: existenzielle und soziale Verantwortung

      Wenn aber der Tod das der erlebbaren Zeit gegenüber ganz Andere ist, wie kommt dann die Gewissheit des Todes zustande? Das einzelne Subjekt kann sich ja des Todes nicht selbst versichern, in keinem Erleben und deshalb auch in keinem Vorlaufen, Erwarten oder Antizipieren. Es kann sich des Todes nur durch andere Subjekte versichern. Oder anders gesagt: Der Tod ist immer der Tod der Anderen. Es sind die Anderen, die verstorben sind, aber es sind auch die Anderen, die immer wieder Anderen, die zurückbleiben und weiterleben. Die scheinbar absolute Grenze des Todes ist in ihnen immer wieder aufs Neue aufgeschoben. Sie, die Anderen, sind, buchstäblich, der Aufschub des Todes.

      Das aber bedeutet: Der Tod ist kein subjektives Ereignis – als subjektives ist er vielmehr ein am Ende unaufschiebbares Nicht-Ereignis –, sondern ein intersubjektives: ein zwischen den Subjekten aufschiebbares Ereignis. In ihm, diesem intersubjektiven Ereignis, wird sich der Mensch seiner subjektiven Endlichkeit, seiner Sterblichkeit bewusst. Aber der Schock dieser Endlichkeit wird im Erleben des Todes eines Anderen zugleich auch gemildert – durch die Übernahme des Todes des Anderen durch Andere: durch das gemeinschaftliche Gedenken und die Solidarität der Zurückbleibenden mit den Trauernden und die gesellschaftliche Minimal-Verpflichtung der anderen Anderen, die stets zukünftige Kette des Sinns nicht abreißen zu lassen.

      Genau in dem Moment, in dem die triviale Transzendenz der Zeitsynthese durch das ganz Andere unterbrochen wird, die Synthese zusammenbricht, zeigt sich also die Möglichkeit einer gravialen Transzendenz, die im intersubjektiven Ursprung der Todesgewissheit gründet. Das triviale Übergehen von Einem zum Anderen erhält einen neuen, gravialen Sinn: den der Übernahme des existenziellen Sinns des Einen durch die Anderen, der Konstitution eines symbolischen Bandes, durch das der Stab der existenziellen Verantwortung an Andere weitergegeben wird. Genau hierin liegt der Kern aller sozialen Verantwortung, die durch den Tod in die eigene existenzielle Verantwortung hineinragt und so selbst zur existenziellen wird.

      Existenzielle und soziale Verantwortung können also, kraft des Todes, nicht voneinander getrennt werden: Es ist am Ende das Faktum des Todes, das das soziale Band knüpft: das sichere Faktum des individuellen, aber auch das unsichere des allgemeinen Todes, des Todes der Menschheit. Denn für den allgemeinen Tod gilt mutatis mutandis das Gleiche, was auch schon für den individuellen Tod gilt: Seine Tragik könnte nur gemildert werden, wenn er von Anderen – oder mindestens einem Anderen – übernommen würde. Die Möglichkeit einer solchen Übernahme kann jedoch nicht gewusst werden; an sie kann man nur glauben. Philosophie ginge in Theologie über.

      Literatur

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      Elias N (1984) Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

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      Husserl E (1893) Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Hrsg. von Bernet R. Hamburg: Meiner Verlag. 1985.

      Husserl E (1901) Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. I. Teil. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 1980.

      Husserl E (1928) Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hrsg. von Heidegger M. Halle: Max Niemeyer Verlag.

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      Kaempfer W (1996) Zeit des Menschen. Das Doppelspiel der Zeit im Spektrum der menschlichen Erfahrung. Frankfurt am Main: Insel Verlag.

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      Theunissen M (2001) Reichweite und Grenzen der Erinnerung. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag.

      A 2

      Neurale Mechanismen der zeitlichen Organisation unseres Verhaltens

      Kai Vogeley und Marc Wittmann

      A


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