Palliativ & Zeiterleben. Группа авторов

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ist dieses »Zusammenfügen« zu verstehen? Wird das Subjekt reflexiv, d. h. als Selbst-Bezug bestimmt, zugleich aber empirisch als zeitliches Subjekt verstanden, dann verhält es sich zu sich selbst auch als einem vergangenen und zukünftigen Subjekt (retentional/protentional, erinnernd/erwartend; vgl. image Kap. A 1.5). Als erlebendes Subjekt ist es jedoch für sich Gegenwart und deshalb stellt auch sein Vergangenheits- und Zukunfts-Bezug einen Gegenwarts-Bezug dar. Das heißt, die Gegenwart des Subjekts kann stets als Synthese seiner Vergangenheit und Zukunft verstanden werden. Sein Zusammenfügen ist ein synthetisierendes Geschehen (vgl. Theunissen 1991, S. 58 f.; Kupke 2009, S. 46 f., 94 passim).

      Die modale Zeit ist daher genauer als dimensionierte Zeit zu verstehen, ihre Zeitmodi sind eigentlich Zeitdimensionen. Denn so wie die Gegenwart aufgrund ihres Gefügecharakters nicht als statisches Jetzt, sondern als ein je schon transzendiertes Jetzt erlebt wird – als »Zeithof« oder »Zeitfeld«, wie Husserl sagt (Husserl 1893, S. 33 und S. 42) –, wird dem Subjekt auch seine Vergangenheit nicht als statischer Block gegenwärtig, sondern als eine Zeit, die ihre eigene, jetzt aber vergangene Zukunft hatte, und auch die Zukunft nicht als ein dem Subjekt völlig Fremdes, ganz Anderes, sondern als eine Zeit, die ihre eigene, jetzt noch zukünftige Vergangenheit haben wird (vgl. Süsske 2000; Kupke 2011).

      A 1.5.1 Unbewusstes, passives Erleben von Zeit: transzendentale Ebene

      Viele für unser Leben grundlegende zeitkonstitutive Prozesse werden vom Subjekt unmittelbar und unbewusst vollzogen. Der Zeitfluss, der als stetiges Übergehen von Einem zum Anderen bestimmt wurde, prägt in diesem Sinne transzendental, d. h, als Bedingung der Möglichkeit von Erleben überhaupt die Intentionalität des Subjekts als eine auf die Zukunft bezogene, ohne dass es dazu eines eigenen bewussten Akts bedarf. Das Subjekt ist gleichsam selbst unaufhörlicher, kontinuierlicher Übergang in die Zukunft; es ist, ließe sich sagen, von der Zeit getrieben und so selbst, passiv, von der Zeit konstituiert. Denn objektiver Fluss und subjektives Fließen sind hier eins: eine einzige Intention.

      Den objektiven Fluss jedoch teilt das Subjekt mit den Dingen. Als der zeitlichen Veränderung lediglich unterworfen, unterscheidet es sich daher nicht von ihnen. Erst als zeitlich strukturierendes ist es überhaupt lebendes und insofern erlebendes Subjekt, ist sein Erleben, auch das seines eigenen Zeitflusses, möglich. Lässt sich vom »élan vital« (Bergson), vom »personalen Elan« (Minkowski) oder vom »vitalen Geschehen« bzw. »Werdedrang« (Straus, Gebsattel) überhaupt nur als – unmittelbar oder mittelbar – erlebtem Elan, Drang usw. reden, so ist mit ihrem Leben und Erleben bereits eine transzendentale Struktur der Zeit vorausgesetzt, die in diese Thematisierung selbst nicht eingeht.

      Es ist die Struktur, deren Aufweis wir den zeitphänomenologischen Analysen Edmund Husserls zu verdanken haben (vgl. Husserl 1893). Demnach ist jedes Erleben ein Erleben-von, ein intentionales Geschehen, das als eine reflexive, aber passive Synthese dreier intentionaler Akte verstanden werden kann: eines die unmittelbare Vergangenheit konstituierenden Akts primärer Erinnerung (Retention), eines die unmittelbare Zukunft konstituierenden Akts primärer Erwartung (Protention) und eines die Gegenwart im reflexiven Selbstbezug, vermittelt über die Protention und Retention, konstituierenden Akts der Gegenwärtigung (Präsentation).

      Husserl verdeutlicht diese Struktur am Beispiel des Erlebens einer Tonfolge: Um eine Tonfolge und nicht nur einzelne Tonfragmente wahrnehmen zu können, muss sich ihm zufolge durch die Retention bereits aus dem Aktualbewusstsein verschwindender Tonereignisse und die Protention allererst ins Aktualbewusstsein tretender Tonereignisse hindurch, d. h. in einem stetigen Synthetisierungsprozess, das Subjekt den Verlauf der musikalischen Tonfolge präsent halten. Zumindest können wir es uns Husserl zufolge nicht anders denken und es in unserer Gestaltphänomenen gegenüber hilflosen Sprache auch nicht anders darstellen (vgl. Husserl 1893, S. 33 f., S. 163 und S. 169 f.; Kupke und Vogeley 2009, S. 137 ff.).

      Die von Husserl beschriebene passive Zeitsynthese, durch die überhaupt ein Erleben möglich wird, ist dem Bewusstsein, als einem abkünftigen Modus dieses Erlebens, nicht zugänglich. Sie kann uns zwar, z. B. in einer phänomenologischen Beschreibung, bewusst werden, aber da unser Bewusstsein durch sie strukturiert ist, sie also selbst die fundamentale Struktur ist, in der das Bewusstsein Veränderungen erfährt, kann es sie nicht modifizieren. Allenfalls Psychopharmaka oder Drogen könnten auf dieser ersten – mikrologischen – Ebene eine Wirkung entfalten (vgl. Heimann 1989, S. 63 ff.).

      Erst auf einer zweiten – makrologischen – Ebene oder Schicht der Zeitsynthese, die nicht nur einen erkenntnis-, sondern auch einen biographiekonstitutiven Status hat, gibt es die Möglichkeit der bewussten Modifikation. Auch hier ist das Erleben zunächst durch die Richtung und Kontinuität des Zeitflusses geprägt (vgl. image A 1.4.1). Das Subjekt wird sich seiner Kontinuität und Richtung jedoch bewusst, d. h. der Zeitfluss ist dem Bewusstsein gegenwärtig. Das Subjekt weiß, dass die Zeit einen einsinnigen Verlauf hat: vom Früheren zum Späteren; und es weiß ebenso, dass es diese Richtung aktual nicht umkehren, zu keinem früheren Wahrnehmungszustand zurückkehren kann.

      Dieses Wissen setzt jedoch bereits bewusste und aktive Prozesse der Erinnerung und Erwartung voraus, die Husserl zur besseren Unterscheidung von den unbewussten und passiven als sekundäre Erinnerung und Erwartung bezeichnet (vgl. Husserl 1928, S. 365 ff.): Das Subjekt erinnert sich z. B. an eine frühere Wahrnehmung und verknüpft sie mit einer gegenwärtigen, oder es erwartet die Wahrnehmung von etwas, das es sich schon jetzt vergegenwärtigen kann usw. In diesen bewussten Intentionen konstituieren sich also auf einer höheren, komplexeren Stufe erneut Erkenntnisse, aber sie sind nun Teil der Biographie eines sich bewusst in der Welt orientierenden Subjekts (vgl. Kupke 2011).

      Das unbewusste ist dabei dem bewussten Zeiterleben nicht äußerlich, sondern in es integriert. Es ist sein Implement. Umgekehrt aber erweitert das bewusste das unbewusste Zeiterleben, so dass es in dieses gerade nicht integriert sein kann. Es ist dessen Emergent (zur Terminologie vgl. Elias 1987, S. 185 ff.; Kupke 2008). Das sekundäre Zeiterleben baut ontologisch auf das primäre auf, aber dieses ontologisch Sekundäre ist, existenziell gesehen, gerade das Primäre: Dass die Zeit einsinnig verläuft, aber auch strukturiert ist, dass sie nicht nur die Zeit dinglicher, sondern lebendiger Wesen ist, gewinnt für das seiner selbst bewusste Wesen »Mensch« gravierende, existenzielle Bedeutung.

      A 1.6 Die Bedeutung der Gewissheit des Todes für das Erleben von … Zeit

      A 1.6.1 Bewusstsein und Gewissheit des Todes: der Tod als das ganz Andere

      Wodurch gewinnen der Zeitfluss und seine Struktur, das Fließen der Zeit und ihre Strukturierung für das Subjekt existenzielle, graviale Bedeutung? Durch die Gewissheit des Todes. Denn ontologisch gesehen ist die Zeit ein totales, unendliches Medium. Ihr Fluss, ihr triviales Transzendieren von Einem zu Anderem und immer wieder Anderem ist endlos. Und auch ihre Struktur, die die Struktur dieses Flusses ist, kennt keinen Tod. Ohne ihn wäre auch die dimensionale Strukturierungsleistung des Subjekts, die Synthese der Zeit aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, ohne Ende. Die Zeit wäre unendliche Zeit.

      Durch das Bewusstsein des Todes jedoch verändert sich alles. Im Sinne des vorgestellten binären Schemas kann man die Frage stellen, ob diese Veränderung tatsächlich die Zeit als das Intendierte, das »Objekt« und nicht vielmehr nur deren Intention, das »Subjekt« betreffe; denn nicht die Zeit sterbe, sondern das einzelne Subjekt. Aber nimmt man den schon verdeutlichten phänomenologischen Grundsatz ernst, dass uns die Zeit nur als erlebte, nur in ihrem Für-uns, nicht aber in ihrem An-sich zugänglich ist, wird man mit aller Vorsicht sagen können: Die ontologisch unendliche Zeit wird durch das Todesbewusstsein für das Subjekt zur existenziell endlichen, sie wird ver-andert.

      Worin


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